Samstag, 10. Oktober 2015

Man nehme Oblaten...

Nein, es folgt mitnichten ein Rezept für winterliches Backwerk, denn die Oblate hatte damals durchaus noch einen anderen Zweck.
Neben der Kleidung aus der Zeit um 1800, interessiert mich auch sehr Ephemera aus vergangenen Tagen, die trotz ihres wortwörtlichen Eintagsfliegendasein überdauert hat.
Ein besonderer Genuss ist daher der regelmäßig Besuch auf Lady Smatters Seite Her Reputation for Accomplishment.
Hier war es auch, wo ich vor einigen Wochen ihrem wundervollen Beitrag über sogenannte Brief-oder Siegeloblaten entdeckte.
Mein Interesse war geweckt, denn ich wollte unbedingt herausfinden, ob die Oblaten auch im deutschsprachigen Raum verwendet wurden.
You'll need wafers...
No, there won't follow a recipe for winter's baked goods, because wafers had another important purpose back then.
Next to the history of clothes around 1800, I'm also very interested in ephemera from bygone days, which have survived despite their literally mayfly existence.
A real treasure in this regard is my regular visit to Lady Smatter's blog Her Reputation for Accomplishment
This was also the place, where I discovered the mention of letter or sealing wafers some weeks ago.
I was hooked and was determined to find whether these were in use in German-speaking areas as well.

1836, Österreicherisches Wochenblatt für Industrie, Gewerbe, Handel und Hauswirthschaft (Quelle/source: google books)
Transkription:
Man unterscheidet Kirchen-,Tafel-, (oder Backoblaten zur Unterlage verschiedener feiner Bäckereien) dann Mund- oder Siegel-Oblaten; letztere scheinen zu Ende des sechzehnten Jahrunderts in Gebrauch gekommen zu sein, sind aber erst zu Ende des 18. Jahrhunerts häufiger zum Briefsiegeln angewendet worden, insbesondere haben sie zu Anfang des 19. Jahrhunderts den Gebrauch des Siegellacks bei den Handelsbriefen verdrängt.
Translation:
We distinguish church-, plate-, (or baking wafers as base for different bakery goods) then mouth or sealing wafers; the latter seem to come into use in the 16th century, but become more widely spread as seals not before the 18th century, especially at the beginning of the 19th century they replaced seal wax for business letters.


Neben diesem Rückblick aus den 1830er Jahren, findet sich in Gottfried Christian Bohns Waarenlager noch ein interessanter zeitgenössischer Beitrag zu den Oblaten.
Apart from this 1830s article, we find a more period article on wafers in Gottfried Christian Bohns Waarenlager.

1806, Gottfried Christian Bohns Waarenlager (Quelle/source: googlebooks)

Transkription:
Die Mund- oder Siegeloblaten, welche zum Briefsiegeln dienen, werden durch Stecheisen aus den großen Tafeln ausgetochen und in Schachteln verkauft. Die verschiedenen Farben derselben wird beim Einrühren des Teiges (Anmerk.: ein Weizenmehl/Wassergemisch) beigemischt.
Zur rothen Farbe nimmt man Zinnober oder Mennige, zur gelben Gummigutt, zur blauen Berlinerblau, zur grünen Bergblau mit Gummigutt gemischt, zur schwarzen einen mit Branntwein gelöschten Russ.
Durch Zusätze mit Zucker und anderen Dingen zum Teige macht man bessere Arten. Die Kirchen - und die Mund oder Siegeloblaten liefern insonderheit Nürnberg und Fürth in großer Menge von allen Sorten und Farben, sortiert in Schachteln; ferner eine Fabrik in Cassel, [...] die Siegeloblaten aber in Schachteln und Fässern Pfundweise, oder auch 4, 6, 8, 12, 16, 24 und 100 Schachteln verkauft; ferner Leipzig und Frankfurt u.m.a.
Translation:
The mouth or sealing wafers, which are used to seal letters, are cut out with iron broaches from large pieces and are sold in boxes. The different colours are added when the dough (wheatflour and water) is mixed.
For red colouring vermilion or minium, for yellow colour gamboge, for blue Berlin Blue, for green azurblue and gamboge, for black soot deglazed with brandy.
With additives like sugar and others, the dough becomes finer. The church-, and mouth and sealing wafers are especially delievered from Nürnberg and Fürth in great numbers and different colours, offered in boxes; also a factory in Cassel, [...] the sealing wafers in boxes and barrels by the pound, or in 4, 6, 8, 12, 16, 24 or 100 boxes; also in Leipzig and Frankfurt and many others 
In ihrem Bericht  "Making (and Faking) Wafers" erklärt uns Lady Smatter ausführlich, wie man die kleinen Oblaten herstellt.
In Ermangelung eines feinen Backeisens, habe ich mich für den einfachsten Weg entschieden und mir grünes Esspapier mit Apfelgeschmack und Backoblaten gekauft. Erstere haben leider nicht bis zum Versuch überlebt, denn ich muß gestehen, dass ich dieser sonderbaren "Delikatesse" aus Kindertagen absolut verfallen bin und man mich nicht unbeaufsichtigt damit lassen darf. Also stanzte ich meine Mund- und Briefsiegel aus Backoblaten. 
In her blogpost "Making (and Faking) Wafers" Lady Smatter gives us a thorough description how to produce these little wafers.
In lieu of a neat wafer iron, I decided for the easiest way and purchased green sugared wafers with apple flavour and baking wafers. The first unfortunately haven't survived until my first attempt was due, because I have to admit that I'm kind of addicted to the "delicacy" of my childhood days and that I should not be left unsupervised with these. Hence I punched out the little circles for the mouth and sealing wafers from the baking ones.

Wie die heutige Klebekante an unseren modernen Briefumschlägen, werden auch die Oblaten beidseitig angefeuchtet und zwischen die zusammengefalteten Seiten geschoben... 
Not very different from today's adhesive edges on modern letters, the wafers are moistened from both sides before they slide between two layers of the folded letter...


...dann vorsichtig andrücken...
...then press only very carefully...

...eine Petschaft aussuchen...
...choose a seal...

...und schließlich mit viel Druck auf die verborgene Oblate stempeln.
...and finally with lots of pressure stamp on the hidden wafer.

Und schon ist der Brief wirklich perfekt versiegelt. 
Lady Smatter hat bereits darauf hingewiesen, aber ich wiederhole nochmal, dass es wichtig ist, die Stelle, an der später die Oblate als Siegel eingeschoben wird, beidseitig nicht zu beschriften!
And then the letter is perfectly sealed.
Lady Smatter has already given the advice, but I like to repeat it here, as it is important to not write on the part were the wafer later is added! 

Zuletzt noch ein treffender Auszug aus Georg Christoph Lichtenbergs (1742-1799) Schriften über einen sehr argwöhnischen Briefeschreiber aus den späten 1770er Jahren: 
And before I end, I'd like to share an appropriate excerpt from Georg Christoph Lichtenberg's (1742-1799) texts about a very suspicious letter writer fromthe late 1770s: 

[...] Er hatte den Brief erst mit Oblaten, und obendrauf mit Lack gesiegelt, aus einer ähnlichen Absicht, wie Merkur die Grundsätze der Geometrie auf Säulen aus Ton und Erz grub. Denn ward der Brief zu nahe an den Ofen gelegt, so hielt ihn die Oblate zu, und fiel er ins Wasser, das Lack.[...] 
Auszug G.C.Lichtenbergs Sudelbuch (G220) Quelle: zeno.org 
[...] He had sealed the letter with a wafer and then on top with a wax seal, in a similar intention as Mercury did when he placed the basics of geometry on pillars of clay and bronze. Because if the letter would have been put too close to an oven, the wafer would keep it close, and in case the letter fell into water, the seal would keep everything secret.[...]
 Excerpt G.C. Lichtenbergs Sudelbuch (G220) source: zeno.org

An dieser Stelle möchte ich mich nochmals herzlich bei Lady Smatter für ihre großartige Arbeit auf Ihrem Blog bedanken - so macht Briefeschreiben fortan noch mehr Vergnügen! 
I would like to thank Lady Smatter very much for her wonderful work on her blog - this way letterwriting means even more fun!

6 Kommentare:

  1. Very cool! I like the last bit where the gentleman uses both the wafer and the wax seal. Great find!

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    1. Yes, indeed. I wonder what secret such a double sealed letter would have contained...;)

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  2. Lady Smatters Blog ist eine Fundgrube für Freunde der schönen, alten Schreibkultur, ich habe ihn auf WordPress abonniert und freue mich natürlich, dass Du hier auf Deiner Präsenz etwas davon aufgreifst, in der Praxis nachvollziehst bzw. damit experimentierst und diesen Erfahrungsschatz dann an die Leser weitergibst. Mit diesen Feinheiten versehen, machen Briefe im traditionellen Stil in der Tat noch mehr Vergnügen, als sie es ohnehin schon tun. Übrigens, was ich hier noch extra anmerken möchte: genau wie Du liebte ich früher das Esspapier (salopp auch "Fresspapier" genannt) in den verschiedensten Geschmacksrichtungen. Und auch heute noch mag ich eigentlich alles, was so aus Oblaten hergestellt wird, beispielsweise Karlsbader Oblaten, ein ganz vorzügliches Gebäck, wie ich finde.

    Liebe Grüße

    von Constanze

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    1. Ja, ich genieße ihre Beiträge auch immer sehr! Eine wirkliche Fundgrube für Ephemera.
      Es freut mich zu hören, dass ich nicht die einzige "Esspapier-Süchtige" bin, es gibt halt einige Angewohnheiten aus der Kindheit, die man niemals ablegt :) Papier ist einfach wunderbar, egal ob beschrieben oder als Süßigkeit!

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  3. Ein sehr interessanter Bericht und ein prima Oblaten-Experiment! Ich mag ja solche Art Rückblick sehr gerne, wenn Du solche alltäglichen Handlungen aufgreifst, die früher gängig waren, von denen man heute aber gar nichts mehr weiß. Vielen Dank!

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    1. Ohhhh, Dankeschön - das war wirklich ein schönes Experiment und ich hatte dank Lady Smatter ja eine gute Ausgangsbasis :)

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