Dienstag, 13. Juli 2021

...und übersende Ihnen anbey ein Schächtelchen zu Ihrem Wohlgefallen.

Aus dem Nachlass vieler Zeitgenossen um 1800 wissen wir, dass es durchaus üblich war, mit einem Brief eine Beigabe zu verschicken. Häufig waren es Gegenstände des Alltags, die in Papier, in Körben oder auch Kisten und Schächtelchen versendet wurden. Man übermittelte sich gegenseitig geerntete Früchte oder Gemüse, schickte Käse oder Bonbons; Blumisten füllten die Schächtelchen mit Blüten oder Samen...und nicht selten waren die Verpackungen bereits kleine Kostbarkeiten.
Jene aus Papier und Pappe waren dabei der Vergänglichkeit eher ausgesetzt, umso erstaunlicher und spannender ist es, wenn man auf dererlei Ephemera stößt.
Letztens entdeckte ich eine besonders ansprechende Pappenschachtel bei dem Auktionshaus mit den vier Buchstaben, aber leider hatte ich den Bieterwettstreit verpasst.
Glück im Unglück, ich hatte mir die Bilder abgespeichert...

...und ich hatte noch genügend Pappe vorhanden. Aber Letzteres war ein Leichtes, denn die kleine Schachtel maß ohnehin nur 9 x 6,5 x 3,5 Zentimeter.
Ich hielt mich an die Vorlage und wählte für den Zuschnitt Pappe in der Stärke von 4 Millimeter und 3 Millimeter.

Ein Schächtelchen ist mitnichten einfacher zu fertigen als eine große Pappschachtel, denn eine Unachtsamkeit oder Ungenauigkeit und die Pappteile sind verschnitten. Die Schachtel besteht aus vierzehn Zuschnittteilen, die ich mit Holzleim verklebt habe.
Für ihre Größe ist die kleine Schachtel erstaunlich stabil und man kann sich vorstellen, dass sie selbst eine Fahrt in einer Postkutsche unbeschadet überstehen konnte.
Nachdem der Leim getrocknet war, ging es daran den Farbton zu mischen: ein schönes Veilchenblau, das in den Jahren kaum an Strahlkraft verloren hat.
Die Farben und die Gestaltung mit einer Tuschezeichnung hatten es mir bei dieser Schachtel beonders angetan.

Auf der Suche nach Schrauben und Scharnieren wurde ich im Modellbau fündig.

Was heute maschinell gefertigt wird, wurde damals in mühsamer Arbeit (und sicherlich guten Augen!) von Hand geschnitten und zusammengesetzt.
Bei der Verarbeitung braucht es - damals wie heute - Fingerspitzengefühl und gutes Licht.
Aber die Mühe lohnt sich!

Voila, ein kleines Kunstwerk, welches nichts mit den heutigen Plastikverpackungen gemein hat, sondern selbst schon eine kleine Kostbarkeit ist und Wertschätzung sowohl für den Beschenkten als auch die Gabe im Innern zum Ausdruck brachte.




Innen ist die Schachtel, wie auch das Original mit hellblauem Papier kaschiert, welches neben dem Veilchenblau beim Öffnen für einen weiteren Farbtupfer sorgt.

Die Leimkanten der Pappe sind durch die cremefarbene und violette Tünche noch sichtbar.

Der kleine Alltagsgegenstand wirft - wie so oft - eine Menge Fragen auf. Eine genaue Datierung ist mir leider nicht möglich, aber Verarbeitung und Material lassen auf eine Entstehungszeit um 1800 schließen. 

Es wird auch ein Geheimnis bleiben, ob die Schachtel von einem Händler stammte oder von der geübten Hand des Versenders gefertigt wurde.

Und die wohl brennendste Frage, womit war sie gefüllt? 
Mit Nippes? Einer Haarlocke? Mit Knöpfen? Kandiertem Obst? Pastillen?
Der Farbe entsprechend einem Veilchen gar?
 
1802, Englische Miscellen: Achter Band von Johann Christian Hüttner, Tübingen, Cotta'sche Buchhandlung (Quelle: google books)

Transkription:
[...]Die Läden, wo man feines Gebäck, Confituren, Naschereyen und außerzeitiges oder erlesenes Obst verkauft, haben sich seit zwanzig Jahren in London außerordentlich vermehrt. Seit geraumer Zeit thun auch die sogenannten Chemists, eine Afterart von Apothekern, Eingriffe in dieses Fach. Man findet bei ihnen allerley Bonbons, denen sie jedesmal gewisse medicinische Kräfte beylegen, in eben so großer Vollkommenheit und Eleganz; (das letztere bezieht sich auf die Form und die niedlichen Schächtelchen.) Der Ingwer scheint jetzt hierin einen Vorzug zu haben. Ginger lozenges, candid ginger, ginger pearls & c. sieht man am häufigsten.[...]


Also beuge ich mich der Mode und fülle mein Schächtelchen mit kandiertem Ingwer.