Montag, 22. Februar 2021

Liedchen der Sehnsucht

 Den Titel des heutigen Beitrags habe wir der Weimarer Sängerin Corona Schröter (1751 - 1802) zu verdanken. In dem kleinen Werk "Fuenf und Zwanzige Lieder", das 1786 von ihr selbst veröffentlicht und von der Hoffmannischen Buchhandlung in Weimar in Commission vertrieben wurde, findet sich das Lied mitsamt ihrer Vertonung durch Noten unter der Nummer 20 (Quelle: Herzogin Anna Amalia Bibliothek haab-Klassik, Digitale Sammlung)
 
1787, Corona Schröter gemalt von Anton Graff (Quelle: wikimedia)

Die vortreffliche und von vielen ihrer Zeitgenossen verehrte Sängerin, die bei der Uraufführung des Singspiels "Die Fischerin" 1782 in Tiefurt die Rolle des Dorchens übernahm und in dieser Goethes Erlkönig darbot, wird heute sicherlich nicht selten wegen ihres Vornamens für fragende Blicke oder hochgezogene Augenbrauen sorgen.
Corona im Jahr 2020/2021 bedeutet wohl die Auseinandersetzung mit Einschränkungen des äußeren Lebens und das Ausloten der inneren Grenzen, manchmal bringt das Unbehagen, aber sicherlich auch so manches Liedchen der Sehnsucht.
Die Sehnsucht nach Reisen, nach dem Wiedersehen mit Freunden und Zeiten, in denen die Gesellschaft nicht mit der Unwägbarkeit einer Epedemie konfrontiert ist.
Mein dilettantisches Philosophieren hat mich schließlich zu der Erkenntnis geführt, dass wir durch die äußeren Einschränkungen in diesen Tagen der Lebenswelt einer Corona Schröter wieder näher gerückt sind.
Eine Zeit, in der Edward Jenner (1749 -1823) ab dem Jahr 1796 in vielen Journalen Erwähnung fand, weil er mit einigen unabhängigen Mitstreitern die Behandlung gegen Kuhpocken bei Menschen untersuchte und erstmals durch einen Impfstoff vorantrieb und das Wort "Vakzination" für die Pockenschutzimpfung prägte, aber in der man ansonsten vielen grassierenden Krankheiten noch hilflos ausgeliefert war. So haben der berühmte Weimarer Reformer Johannes Daniel Falk (1768-1826) und seine Frau Caroline (1780-1841) sieben ihrer zehn Kinder verloren, vier davon im selben Jahr durch Typhus (eindrücklich nachzulesen in Ingrid Dietsch Buch "Da fühlst Du einmal meine Last - Vom Alltag der Caroline Falk in Weimar", Wartburg Verlag 2003).
Penicillin, Aspirin und viele Medikamente und Verfahren, die der heutigen Gesellschaft zur Verfügung stehen, waren nocht nicht entdeckt.
Und auch das ausgiebige Reisen, vor allem als Bildungsreise durch Europa, war damals mehrheitlich (aber nicht ausschließlich) den höheren Ständen, dem gehobenen Bürgertum und Adel vorbehalten. 
Jede Reise bedeutete ein Wagnis, aber die Sehnsucht danach war auch um 1800 schon weit verbreitet, was einen Anstieg (und die Nachfrage!) der veröffentlichten Reisebeschreibungen im letzten Quartal des 18.Jahrhunderts anschaulich belegt (Michael North, Genuss und Glück des Lebens, Kapitel 1 Buch und Lektüre, Böhlau Verlag 2003)
Ja, die äußerlichen Einschränkungen betrafen nicht nur das Reisen zu fernen Zielen. Mit Schrecken denken wir an den Dichter Friedrich Hölderlin (1770-1843), der seine Tage ab 1807 bis zu seinem Lebensende in den wenigen Quadratmetern des Turmzimmers in Tübingen fristete.
Aus seinem Unglück eine Tugend machte Xavier de Maistre (1763-1852), der 1790 in Turin eine Haftstrafe von 42 Tagen verbüßte und dort seinen Roman "Voyage autour de ma chambre" als Parodie auf all die Reisebeschreibungen schrieb, der 1794/95 veröffentlicht wurde.
Weniger dramatisch, aber sehr poetisch philosophisch begegnet uns Johann Peter Uz (1720-1796) in seinen Briefen an Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719-1803), die es ihm ermöglichten an den Erlebnissen seiner Freunde teilzuhaben, ohne Ansbach zu verlassen (zur Vertiefung: Wolfgang Adam, Freundschaft und Geselligkeit im 18.Jahrhundert)

Durch Briefe gepflegte Freundschaften bedeuteten damals zumindest ansatzweise das Stillen der Sehnsucht, wenn äußere Umstände ein Wiedersehen verhinderten.
Und unvorhergesehen finden wir uns in ganz ähnlicher Situation. 
In den vergangenen Wochen und Monaten reiste das ein oder andere Brieflein, aber auch Emails, Telefonate und Videoanrufe trösteten über manch trübe Tage und aus der Ferne durfte ich an einem Projekt mitwirken, dessen Idee bereits im Jahr 2019 gereift und entwickelt worden war.
Meine verehrten Freunde von Les Soirées Amusantes setzten ein wundervolles Stück aus der Feder des Sozialreformers Friedrich Eberhard von Rochow (1734-1805) um, welches 1795 Eingang in Bertuchs Journal des Luxus und der Moden gefunden hatte: Die Schleppen.
 

(Falls das Video nicht automatisch erscheint, bitte hier entlang: Die Schleppen)

Ein wenig scheint uns der Humor aus der Zeit gefallen zu sein, aber der Einakter dreht sich um den Sinn und Unsinn der wechselnden Moden.

Im Journal des Luxus und der Moden hat die Mode zwar einen hohen Stellenwert, aber immer wieder ertappen wir Friedrich Justin Bertuch (1747-1822) dabei, wie er mal augenzwinkernd, mal kopfschüttelnd über das Karusell der Kleider und Eitelkeiten berichtet. Was hatte ihn dazu bewogen, ausgerechnet von Rochows Stück auszuwählen und zu drucken?
Könnte es sein, dass seine Gattin Caroline Bertuch (1751-1810) über das Stück gestolpert ist? 
Sie war eine kluge, durchaus tatkräftige Ehefrau, die viele Ideen entwickelte und gemeinsam mit ihrem Mann verwirklichte. Sie betrieb u.a. die Kunstblumenmanufaktur in Weimar.
Erst durch die - widerum von ihren eigenen Maßstäben und Moralvorstellungen geleiteten - Betrachtung im 19. Jahrhundert und frühen 20.Jahrhundert verblassten die Lebensbilder vieler Frauen um 1800, aber glücklicherweise rücken sie mehr und mehr zurück in die Öffentlichkeit, in der sie ihren Zeitgenossen noch allgegenwärtig waren.
Ein interessanter Bericht über Caroline Bertuch findet sich hier:
 
Auch Friedrich Eberhard von Rochows Ehefrau Christiane Louise (1734-1808) war eine interessante Persönlichkeit und stand selbstbewusst als Sozialreformerin neben ihrem Mann...und wer weiß, vielleicht wirkte sie an dem kurzen Einakter maßgeblich mit.
1794, Christiane Louise von Rochow von Christoph Franz Hillner (Quelle/Fotourheber): Gregor Rom Wikimedia)

Das Rochow Museum Schloss Reckahn veranstaltete im Jahr 2010 in der Reihe "Mut und Anmut Frauen in Brandenburg Preußen" die Ausstellung "Tugend, Treue, Eigenständigkeit" zu der es glücklicherweise direkt über den Museumsshop noch ein Begleitbuch gibt!
In diesem Buch werden neun Frauenportraits vorgestellt, die spannender nicht sein könnten, denn den Autoren der jeweiligen Kapitel gelingt es, durch eine stattliche Auswahl an Quellen die Frauen selbst erzählen zu lassen...und die haben so einiges zu berichten!
Einige von ihnen waren gewiss reiselustig und begegneten sich immer mal wieder, aber oft wurden Freundschaften nur durch Briefe aufrecht erhalten und das über Jahre und Jahrzehnte. Darin teilte man seine Erlebnisse, Freuden, Verluste und Sehnsüchte...


Hier schließt sich der Kreis. Ich hoffe, mein Nähkästchengeplauder und all die Bücher und verlinkten Quellen fern ab vom Nähtisch bringen Kurzweil und tragen ein bisschen dazu bei, die Frauen hinter den Kleidern kennenzulernen...manchmal rückt uns die Vergangenheit ganz nah und wir vernehmen ihr Liedchen der Sehnsucht auch heute noch.
Bleibt gesund...und lest!

Montag, 15. Februar 2021

Über Schlaf, Schnee, engländische Schuhe und Goethes Ansichten zum Schuhmacherhandwerk


Warum es hier in den letzten Wochen und Monaten so ruhig geworden ist?
Lang habe ich Feixereien über meine Neigung zum Winterschlaf betrieben...und diesen Dezember habe ich mich tatsächlich dazu entschlossen! 
Dazu musste ich aber nicht in eine klamme, lichtlose und muffige Höhle hinabsteigen - Mitnichten! 
Und wenn ich es recht bedenke, begab eigentlich nicht ich mich in den immer wieder erwähnten Winterschlaf, sondern ich legte meine Social Media Accounts in den Schlaf, denn sonst hätte ich beinah noch das hier verpasst:
Nach Jahren trüber grauer Wintertage, wurden wir im Februar endlich mal wieder mit viel Schnee belohnt...und er blieb liegen!
Der blaue Himmel gab schon eine Ahnung vom Frühling und das strahlende Licht beflügelte und brachte neuen Schwung. Ich stürzte mich in die Arbeit!
Schon seit langer Zeit liebäugelte ich mit einem besonderen Paar Schuhen, doch ein Blick auf meine beiden bestehenden Leisten brachte es an den Tag, zunächst musste ein neuer Leisten her.
Warum der wichtig ist? 
Johann Wolfgang von Goethe gibt uns (verfasst zwischen 1812-1814) in seiner Sammlung "Gedichte. Ausgabe letzter Hand (1827)" seine Ansichten zum Handwerk im Gegensatz zum Dilettantismus preis:
 
Auf den Kauf
 
 Wo ist einer, der sich quälet
Mit der Last, die wir getragen?
Wenn es an Gestalten fehlet,
Ist ein Kreuz geschwind geschlagen.
 
Pfaffenhelden singen sie,
 Frauen wohl empfohlen,
Oberleder bringen sie, 
Aber keine Sohlen!
 
Jung' und Alte, groß und klein,
Gräßliches Gelichter!
Niemand will ein Schuster sein, 
Jedermann ein Dichter.
 
 Alle kommen sie gerennt,
Möchten's gerne treiben;
Doch wer keinen Leisten kennt,
wird ein Pfuscher bleiben!
 
Willst Du das verfluchte Zeug
Auf dem Markte kaufen
Wirst du, eh es möglich deucht,
Wirst Du Barfuß laufen.

In seinem poetischen Vergleich (der möglicherweise eine verspätete Anspielung auf August von Kotzebue im Zusammenhang mit dem Frühromantiker Streit um 1800 sein könnte) zwischen dem Handwerk der Schuster und dem der Dichter, verrät er uns auch einige Wahrheiten und Vorgehensweisen in Handel und Handwerk der Schuhmacher. 
Bereits in einem früheren Beitrag erwähnte ich die Möglichkeit, bei dem Schuster fertig bemalte, bestickte oder gefärbte Schuhblätter abzugeben, welche er auf einem Leisten besohlte und mit einem Absatz versah.
Wir erfahren in Goethes Zeilen aber auch, dass auf dem Markt bereits komplett fertige Schuhe angeboten wurden. Goethe, der sich wider dem Dilettantismus aussprach, hielt sich mit seiner Geringschätzung gegenüber solchen Fabrikaten nicht zurück. 
Aber gab es tatsächlich bereits gefertigte Schuhe und den Schuhversand?

Frankfurter Frag-und Anzeige-Nachrichten, Dienstag 10.April 1804 (Quelle: googlebooks)

Transkription:
[...]Wilhelm Azbach, Schuhfabrikant aus Mainz, bezieht zum erstenmal die hiesige Ostermesse mit einem Assortiment nach dem neuesten Geschmack gearbeiteter Herren- und Frauenschuhe. Hat seine Boutique auf dem Römerberg No.18, wo sonsten der Schuhmacher Vogel aus Erfurt gestanden, und empfiehlt sich unter Versicherung bester Bedienung und billiger Preise bestens.[...]

1801, Carl Steinel, Briefe auf einer Reise durch Thüringen und Hessen(Quelle: googlebooks)

Transkription:
[...]Ein großer Schuhfabrikant Meyer, der sehr beträchtliche Versendungen an Schuhen durch ganz Deutschland macht;[...]

Der kommerzielle Schuhversand ist belegt und möglicherweise mag er bei den modischen Frauenzimmerschuhen auch bisweilen funktioniert haben, denn das sehr weiche feine Leder ist doch recht nachgiebig, aber grundsätzlich bestehen die Handwerker, wie aus Goethes Gedicht hervorgeht, doch auf die Fertigung eines Leisten um eine gute und genaue Passform zu gewährleisten.

Womit wir wieder beim Thema wären: Am Anfang eines guten Schuhs, steht ein guter Leisten!

Ohne Bandsäge heißt es Ärmel hochkrempel, die Handsäge und Feilen hervorholen und dann schleifen, schleifen und schleifen!
 

 

Der neue Leisten ist weniger spitz und dient eher für Modelle der späten 1780er/ sehr frühen 1790er (und dann wieder ab etwa 1800). Die Abmessungen stimmten, aber lieferte er auch einen passablen Schuh?
Bevor ich mich an den geplanten Schuh begeben wollte, entschloss ich mich, den Leisten mit einem einfachen Paar Schuhe zur Probe auf seine Passgenauigkeit zu prüfen.
Ein Modell erregte mein Interesse, das vor allem in England in den 1780er Jahren zeitgleich neben den Schnallenschuhen auftauchte bzw. sich aus diesen entwickelte und sich bis in die 1790er Jahre hielt.
Überhaupt stellen die Schuhmoden der 1790er Jahren einen bunten Reigen an verschiedenen Modellen dar, hier sah man noch hohe Absätze, dort schon eher flache, spitze Formen existierten neben eher rundlichen, Farben und Formen wurden kombiniert - Vielseitigkeit prägte dieses spannende Jahrzehnt, nicht nur in der Schuhmode!

1790-1800 Black pointed ladies' shoes, Great Britain (Quelle: Shoe-Icons)

1780-1790, Shoe NT 1348841.1, Leather Snowshill Wade Costume Collection (Quelle: National Trust)

Beide Paare weisen die langgezogene Schuhzunge auf, wie man sie von Schnallenschuhen kennt.
Während die Schuhe in den 1780er Jahren noch auf höheren Absätzen daherkamen, flachten diese zu Beginn der 1790er Jahre allmählich ab.
Ich entschied mich bei dem Obermaterial für schwarzes Leder, gefüttert mit Leinen.
Einfassband findet sich bei Originalen entweder als Köperband oder Ripsband, ich wählte für mein Paar Köperband:



Nicht selten muß ich beim Nähen zur Zange greifen. 
Mein Leder ist mit Lederfarbe bemalt, da ich ausschließlich mit dem Leder abgelegter Kleidungsstücke arbeite.


Die Kordel verläuft durch den Kanal des Einfassbandes und wird verknotet unter der langen, dreieckigen Zunge verborgen. Es ist unentbehrlich beim Regulieren am Fuß, denn trotz Einfassband sitzt das Material manchmal zu locker. Das Band habe ich - Originalen entsprechend - aus verzwirbeltem Leinenfaden gefertigt, der später noch zusätzlich mit Wachs gefettet wurde.



Dieser erste Arbeitsschritt, die Fertigung des Schuhblatts, fiel nicht immer in die Hände der Schuhmacher, sondern wurde, wie eingangs erwähnt, auch im häuslichen Umfeld hergestellt.
Sohle und Absatz wurden hingegen vom Handwerker gefertigt.
 

Ich hatte ein neues Paar Absätze gefertigt, war mir aber nicht sicher, ob meine englischen Schuhe mit den neuen, etwas höheren Absätze oder doch lieber mit den eher flacheren der 1790ern verfertigt werden sollte.
 


Ja, wer die Wahl hat, hat die Qual! Aber die schwarzen engländischen Schuhe sollten dem westphälischen Pflaster trotzen und daher entschied ich mich für den flacheren Absatz.
 

Gute Wahl, oder?




Wie alle meine Schuhe, handelt es sich auch bei diesem Paar um sogenannte Modeschuhe, deren Herstellung und Unterscheidung ich in einem früheren Beitrag bereits aufgeschlüsselt habe.



Eine genaue Bezeichnung dieses Schuhtypus konnte ich in den deutschen Journalen bislang nicht finden. Leider beschränken sich viele Beschreibungen der Kupfer zumeist nur auf Farbe und Material der dargestellten Schuhe. 
Aus diesem Grund habe ich mir erlaubt, sie in meinem Beitrag als "engländische Schuhe" zu betiteln, da ihr buchstäbliches Auftreten dort am häufigsten war.



Glücklicherweise sehen die Modeschuhe nicht nur geschmackvoll aus, der neue Leisten passt auch ganz ausgezeichnet und begleitet mich hoffentlich in Kürze auf weiteren Schuhabenteuern.
 
Apropos Abenteuer! Wie steht es bei einem solchen Modeschuh wohl um die Tauglichkeit bei nasser und kalter Witterung? 
Der Schnee im Februar lud geradezu dazu ein, dieser Frage auf den Grund zu gehen.
Mein Fazit: wer sich Modeschuhe leisten konnte, hatte sicherlich auch die Muße, bei solch abträglichem Wetter in der warmen Stube zu bleiben...es ist wirklich sehr kalt und der Fuß entwickelt sich binnen kürzester Zeit zum Eisklumpen...


...da bleibt Madame lieber im Warmen, setzt sich an den Kamin, träumt vom Frühling und einem weiteren Paar Schuhe. Die Frühlingsmode wird nach der Leiziger Ostermesse sicher wieder einige gefüllte Schachteln bescheren.