Samstag, 23. Dezember 2023

1794/95 Deutsches Chemisenkleid von schwarzem Pecking mit voller Gorge

 Auch wenn es auf diesen Seiten in den vergangenen Monaten eher gemächlich zugegangen ist, wurde die Nähnadel weitherhin geschwungen und der Bestand an Kleidungsstücken und Alltagsgegenständen nach Vorbildern der 1790er Jahre wuchs beständig.
Das Sammeln von schriftlichen Quellen und das Erstellen eines Beitrags erfordern viel Zeit und vor allem Muße, da es mir an beidem in letzter Zeit ein wenig mangelte und mein Fokus eher auf dem Gestalten lag, versuche ich nun nach und nach die Versäumnisse aufzuholen.
Schon seit langer Zeit schwebte mir ein schlichtes Tageskleid in gedeckten Tönen vor. Nachdem ich einen Caraco en Fourreau und en Chemise der frühen 1790er gefertigt hatte, schwebte mir ein Chemisenkleid um 1794/95 vor, wie es zu jener Zeit in Leipzig und Weimar in Mode war.
Im Gegensatz zum enganliegenden Körper der Fourreaukleider der 1790er Jahre, ist das Chemisenkleid vorne in kleine Fältchen gelegt und mit zwei (Kragen und Taille) oder manchmal auch weiteren Coulissen versehen, die mittels Bändern für die Passform sorgen.
Im Leipziger Journal für Fabrik, Manufaktur, Handlung und Mode tauchen sie vermehrt gegen Ende der 1793er und in den 1794er Jahren auf und wissen sich alsbald großer Beliebtheit.
1794, September Journal für Fabrik, Manufaktur, Handlung und Mode, Tab.IV (Quelle: Universitätsbibliothek Heidelberg https://doi.org/10.11588/diglit.44792)


1794, September Journal für Fabrik, Manufaktur, Handlung und Mode, Tab.IV (Quelle: Universitätsbibliothek Heidelberg https://doi.org/10.11588/diglit.44792)

Transkription (markierter Text):
[...] Die Kleider von beliebiger Farbe, sind eben, um des Busens willen, locker und faltig, schließen aber in der Taille dicht an den Leib an, und wallen sodann lang und faltig auf den Boden hinab. Ein schwarzer oder farbiger Gürtel, mit einer Stahlagraffe geziert, oder in eine große Schleife gezogen, umgibt den Leib; die Brust wird etwas bloß getragen.[...]

Auf dem beliegenden Kupfer macht uns der Verfasser des Journals gleich mit mehreren Farben, verschiedenen Ärmellängen, dem etwas freieren Busen und dem hochgeschlossenen Kragen (voller Gorge), mit und ohne Kragenzier vertraut.

Im Weimarer Journal des Luxus und der Moden tauchen die Chemisenkleider vermehrt im Jahr 1795 auf, dort dann auch mit tiefer und moderner hoher englischer Taille.

1795, September, Journal des Luxus und der Moden, Tafel 26 und Tafel 27, Friedrich Justin Bertuch (Quelle: Uni Thulb Jena https://zs.thulb.uni-jena.de/receive/jportal_jparticle_00514253)

1795, September, Journal des Luxusu und der Moden, Modenneuigkeiten, Friedrich Justin Bertuch (Quelle: Uni Thulb Jena https://zs.thulb.uni-jena.de/receive/jportal_jparticle_00093128)

Transkription (markierter Text):
[...]Die erste junge Dame (Taf.26.)...eine Chemise mit voller Gorge, von Englischen rosa Mousseline...Meine andere Dame (Taf.27.)...Sie trägt ferner eine Chemise von dunkelgrünem Berliner Flor, mit hoher Engl. Taille[...]

Schon im folgenden Monat finden wir ein weiteres Modell des modischen Chemisenkleides.
1795, Oktober, Journal des Luxus und der Moden, Tafel 29 (Ausschnitt Modell 2), Friedrich Justin Bertuch (Quelle: Uni Thulb Jena https://zs.thulb.uni-jena.de/receive/jportal_jparticle_00514609 )

Diesmal nicht aus Linon oder Flor, sondern aus Pecking (Pequin), mit langen Ärmeln und voller Gorge.

1795, Oktober, Journal des Luxus und der Moden, Modenneuigkeiten, Friedrich Justin Bertuch (Quelle: Uni Thulb Jena https://zs.thulb.uni-jena.de/receive/jportal_jparticle_00093168 )

Transkription (markierter Text):
[...]Fig.2. Eine junge Dame in einer Chemise mit langen Aermeln von Gris de lin Pecking, mit einer Schürze von breitem rosa Atlas Bande, vorne unter der Brust in eine große Schleife gebunden, um den Hals ein Flor-Tuch, welches in die Chemise gesteckt ist[...]

Nicht nur in den Journalen findet sich dieser Stil des Chemisenkleides, sondern auch in verschiedenen Portraits aus der Mitte der 1790er Jahre sehen wir diese eher hochgeschlossene Mode. Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich und der Schweiz.
ca.1795 Louis Lin Perin-Salbreux (1753-1817), Lady in Green Gown, Miniatur (Quelle: Boris Wilnitsky Fine Art http://www.wilnitsky.com/cgi-bin/gallery.cgi/details?No=42889)

ca.1790/95 Mme. Colladon, née Martin (Quelle: Neil Jeffares, Dictionary of pastellists before 1800, Swiss School http://www.pastellists.com/Articles/Swiss.pdf )

Ich entschied mich in meiner Ausführung des Chemisenkleides für eine dunkle Farbe, mit langen Ärmeln, tiefer Taille und hohem Kragen.



Das Rockteil wird in diesem Fall angesetzt und aus mehreren Stoffbahnen genäht, sodass es annährend vier Meter Saumumfang hat.
Dem schlichten Schwarz, das in den 1790er bereits nicht mehr unbedingt auf Trauer hinwies, sondern auch für Morgenkleider oder auch Tageskleider Verwendung fand, wollte ich einen kleinen Akzent hinzusetzen. Eine Zackenborte (allerdings anachronistisch aus einem späteren Jahrhundert), sollte den Rocksaum und die Ärmel zieren.
 


Nachdem der Rocksaum und die Ärmel ihre Zier erhalten, und Rock und Körper Hochzeit gehalten haben, war das Chemisenkleid ohne weitere Auszierung fertig.


Ich trage es mit einem schwarzen Taftgürtel und einer Stahlschnalle. 


Zum Putz gehört ein weißes Linon Fichu, ein Bandeau zu grauer Perücke. Die Bilder entstanden im Musäushaus am Kegelplatz in Weimar und beherbergen heute die Albert Schweitzer Gedenkstätte.


Unter dem Chemisenkleid verbirgt sich selbstverständlich ein Cul de Paris.

Die Begeisterung der Damen um 1794/95 konnte ich sehr schnell nachvollziehen, denn das Chemisenkleid lässt sich wunderbar tragen und ist für den Alltag wie geschaffen. Es ist schlicht, aber zugleich ist man vortrefflich für den Vormittag gekleidet. Wie im folgenden Bild im wunderschönen Garten des Kirms Krackow Hauses in Weimar.
Fotocopyright Kerstin Klotsche von FlyingDreams

Aber wir frönten in Weimar in diesem Frühsommer nicht nur dem süßen Nichtstun, sondern wir haben auch die Ausstellung im Bücherkubus der Herzogin Anna Amalia Bibliothek (HAAB) besucht. Dort huldigte man dem Gründer des Journals des Luxus und der Moden Friedrich Justin Bertuch mit einer Ausstellung im Rahmen des Themenjahres Wohnen 2023.
Mir fiel die große Ehre zu, einige meiner Nacharbeitungen für die Ausstellung zur Verfügung stellen zu dürfen.
Unter Friedrich Justin Bertuchs strengem Blick wurden meine Arbeiten in zwei Virtinen präsentiert.

Ausgestellt waren der Frankfurter Huth von 1796 mitsamt Huth-Schachtel...

...sowie ein Reticule von Nacarat von 1800 und Flitterschuhe von 1794.

Fotocopyright: Klassik Stiftung Weimar

Fotocopyright: Klassik Stiftung Weimar

Aber nicht nur meine drei Nacharbeitungen bereicherten die Ausstellung, sondern auch einige Highlights unserer Modenschau von 2022 im Bertuchhaus, dem heutigen Stadtmuseum. 
Die Ausstellung ist auch im Internet abrufbar:

Mein besonderer Dank an Veronika Spinner von der Klassik Stiftung, welche die Ausstellung kuratiert und uns eine Führung durch selbige gegeben hat.
Und merci beaucoup an Alessandra Reeves vom Pavillon de La Paix, durch deren Einsatz nicht nur die wunderbare Modenschau 2022 realisiert werden konnte, sondern auch die Möglichkeit ein kleiner Teil der diesjährigen Ausstellung zum Thema Wohnen2023 zu werden.
Fotocopyright: Klassik Stiftung Weimar

Am schönsten genießt man natürlich in geselliger Runde mit weiteren fabelhaften Frauenzimmern, die ich Freundinnen nennen darf.
Von links nach rechts: Alessandra Reeves - Pavillon de la Paix, Gabriela Gehrig, Sabine Schierhoff - Kleidungum1800, Kerstin Klotsche - Flyingdreams, Tanja Grebe
 
Ich hoffe, ich konnte mit diesem Blogbeitrag noch einmal für etwas Kurzweil in den letzten Tagen des Jahres sorgen.
Meinen Leserinnen und Lesern wünsche ich glückliche Feiertage und einen guten Start in das neue Jahr 2024!

Montag, 27. November 2023

Oh, Madame hat ein neues Caraco...oder Pierrot?!

 Manchmal habe ich die Modeschöpfer in Verdacht, sich ein Vergnügen daraus gemacht zu haben, Begriffe immer wieder neu zu definieren und mit Zusätzen zu garnieren.
Das gilt selbstverständlich auch oder besonders für die frühen 1790er Jahre.
In den Journalen wird das enganliegende Schoßjäckchen zum Rock immer beliebter und damit einhergehenden hatten auch verschiedene Bezeichnungen des selbigen ihre Hochzeit.
Zu Beginn der 1790er Jahre war die Schoßjacke mit zurückgeschnittenen Seiten eines der Lieblingskinder der modischen Frauenzimmer.
1792, März, Journal des Luxus und der Moden, Friedrich Justin Bertuch, Tafel  7 (Quelle: thulb Uni Jena)

1792, März, Journal des Luxus und der Moden, Friedrich Justin Bertuch, Modenneuigkeiten (Quelle: thulb Uni Jena)

Transkription:
[...]Caracos und Pierrots sind jetzt allgemein. Alte und junge, dicke und magere, schöne und garstige Weiber und Mädchen tragen sie, und zwar sehr häufig ganz weiße von Atlas oder Linon, weil weiß jedermann, sowohl alte als junge Personen, gut kleidet, und sich mit allen Farben verträgt. Alles kommt dabey auf die Wahl der Farben zur Garnierung an, worinnen unsere Schönen ihren guten oder schlechten Geschmack zeigen können. Ich liefere Ihnen eines dergleichen vom neuesten Geschmacke, (Taf.7.) Pierrot und Rock sind von weißen Linon mit Festons von violet Atlas mit goldenen Spitzen besetzt, und mit rosa Schleifen aufgezogen, garnirt [...]

Während diese zurückgeschnittenen Schoßjäckchen im Journal des Luxus und der Moden nur hier und da als Pierrots tituliert werden, bedient sich das Journal für Fabrik, Manufaktur, Handlung und Mode hingegen bei fast allen Ausführungen des Februar 1793 des Begriffs und auch in weiteren Heften des Leipziger Journals tauchen sowohl Caraco als auch Pierrot sehr häufig und nicht immer mit eindeutiger Zuordnung auf.
Es bleibt für die Jahre zwischen 1790 und 1795 also eher  schwammig/schwierig eine gültige Beschreibungen zu liefern.
1793, Februar, Journal für Fabrik, Manufaktur, Handlung und Mode, Tafel III (Quelle: googlebooks)

1793, Februar, Journal für Fabrik, Manufaktur, Handlung und Mode, Tafel III Beschreibung (Quelle: googlebooks)

Transkription (Markierungen):
[...]Fig.1. ...Das Pierrot und Rock von Rosa Atlas...Das junge Frauenzimmer Fig.2...Pierrot und Rock von pace Atlas...Fig.3. ... Das Pierrot und Rock von himmelblauem Atlas[...]
 
Pierrot! Pierrot! Pierrot!
Dank der Mode der Schalls (oder Shawls) sehen wir leider nur an einem der Modelle ein Schößchen, alles andere bleibt unbekannt.

1793, Februar, Journal für Fabrik, Manufaktur, Handlung und Mode, Tafel IV (Quelle: googlebooks)

Tafel IV sorgt dann ein paar Seiten weiter für noch mehr Verwirrung, denn nicht nur das Schoßjäckchen Nummer 3 wird als Pierrot bezeichnet, sondern auch das Frauenzimmer in der Mitte trägt ein solches - vom Fichu verdeckt: schößchenlos und beschleift:
1793, Februar, Journal für Fabrik, Manufaktur, Handlung und Mode, Tafel III (Quelle: googlebooks)

Transkription (Markierungen):
[...] Fig.2. ...Das Pierrot von gris de fouris Atlas, an den Aermeln und hinten mit rosa Band garniert. Ein Gürtel von breitem rosa Bande. ...Fig.3. ...Ein Pierrot von schönem himmelblauen Cottun; die Muschen, die Bänder an den Aermeln, und die Besetzung des Pierrots, nakara. ...Der Rock wie das Pierrot, unten herum mit Doppelfalten von weißem Flore besetzt[...]

Und auch wenn es an der gültigen Begrifflichkeit mangelt, wollte ich ein Pierrot oder Caraco oder Caraco en Fourreau zu meiner Garderobe hinzufügen.
Ich wählte einen Stoff, der schon lange in meinem Stoffschrank schlummerte und den ich Ute von Schneiderherz' Großzügigkeit zu verdanken habe! Dankeschön!
Also ging es mit der großen Schere an die ehemalige Baumwollbettwäsche aus dem schwedischen Möbelhaus mit den vier Buchstaben.


Den Schnitt hatte mir Alessandra von Pavillon de la Paix in Weimar auf den Leib geschneidert, auch dafür ein herzliches Dankeschön!
Die Ärmel benötigten noch eine kleine Nachbesserung, aber sie passen wunderbar!

Probeärmel - sicher ist sicher!

Die breite Einfassung aus grünem Seidentaft.


Für die Ärmel wählte ich einen Verschluß mit Seidenbändern

Und dazu kam selbstverständlich noch ein Rock mit einer Falbel am Saum.




Zu dem Pierrot und dem Rock trage ich Westphälische Schnallenschuhe, Seidenstrümpfe, ein Leinenhemd, einen Unterrock, einen 1790er Schnürleib nach J.S.Bernhardt, ein Cul de Paris und einen Pariser Strohhut




Da der erste Versuch für diesen Anzug recht vielversprechend verlief und ich noch genügend Stoff zur Verfügung hatte, entschloss ich mich zu einem zweiten Schoßjäckchen.
Und auch wenn es diesmal keinerlei Ungereimtheiten in Sachen Pierrot oder Caraco gibt (es sei denn, man ist Leserin des Journals für Fabrik, Manufaktur, Handlung und Mode), so könnte man dennoch die modischen Frauenzimmer von damals auf die Probe stellen:
Ist es ein Caraco en Chemise oder ein Caraco en Fourreau, bitte?

1794, Januar, Journal des Luxus und der Moden, Friedrich Justin Bertuch, Tafel 1 (Quelle: thulb Uni Jena)

1794, Januar, Journal des Luxus und der Moden, Friedrich Justin Bertuch, Modenneuigkeiten (Quelle: thulb Uni Jena)

Transkription:
[...] Die erste junge Dame (Taf.1.) trägt ein Caraco mit Rocke von dichtem weißen Mousseline, mit sehr feiner bedruckter Bordüre um den Rock, die Aermel- und Caraco Schöschen. Die Brust ist en chemise mit einem Bausche gemacht; ein Halstuch von geblümten feinen Linon;[...]

Für die Zier wählte ich diesmal statt grüner Seide ein tiefes Rot aus Seidentaft.
Und auch bei den Ärmeln erlaubte ich mir Freiheiten und konstruierte sie mit Knopfleiste, um das Seidenrot üppiger verwenden zu können. Hinzu kamen Zwirnknöpfe.
Zwei? Drei? Oder vier?
Es wurde schließlich die goldene Mitte!




Die Schnitteile blieben gleich, lediglich die Front wurde neu konstruiert.
Der gebauschte Chemisenteil wird von enganliegenden Seitenteilen gefasst.

Zum Caraco gab es einen schlichten weißen Rock, einen Morgen-Huth nach dem Journal des Luxus und der Moden und eine neue Perücke, wie sie für die Jahre 1793/94 in ihrer Lässigkeit einfach unverzichtbar ist.
frühe 1790er, Etienne Charles Le Guay (Quelle: Christies)

Das Oberhaar in eher verwegenen Locken, die nicht mehr so akzentuiert sind wie einige Jahre zuvor, im Nacken ein glatter Chignon, wie er in den Journalen immer noch bevorzugt wird...


...und in Grau, das immer noch in Mode ist!



Madame begutachtet neue Waaren.
Nicht zu sehen, aber dennoch an den Füßen: ein Paar schwarze engländische Lederschuhe.


 



Ob nun Caraco oder Pierrot - kleidsam ist es in jedem Fall!