Wie das im Leben so ist: unverhofft kommt oft.
Während ich im April noch eifrig mit der Arbeit an dem karierten Rijksmusemkleid beschäftigt war, führte mich der Zufall
- an die genauen Umstände kann ich mich merkwürdigerweise nur nebelhaft erinnern -
zu...
Nein, Augenblick!
Tatsächlich! Ein ganzes Jahr ist seither verstrichen...und erfreulicherweise nicht tatenlos, denn der ein oder andere hat sich an den - doch recht kontrovers aufgenommenen - Schnürleibstudien versucht.
An dieser Stelle einen herzlichen Dank an
und
Sie alle haben auf wunderbare Weise gezeigt, wie individuell das Schnittmuster umgesetzt werden kann. In ihren Blogbeiträgen haben sie von ihren Freuden und Schwierigkeiten mit dem Schnitt, aber auch von der einzigartigen und höchst bequemen Passform der Schnürleiber berichtet.
Ich selbst habe zu Beginn des Jahres einen kleinen Workshop abgehalten und ich kann nur empfehlen, dass man sich zusammenfindet und gemeinsam das Probestück anpasst, denn ist diese Hürde erstmal genommen, hat man ein Kleidungsstück, das sozusagen auf den Leib geschneidert wurde. Und außerdem ist es ein größes Vergnügen mit Gleichgesinnten zu schneidern!
Life is full of surprises.
While still busy working on the Rijksmuseum dress in April, fluke pushed me
- I can't even recall the exact circumstances -
to...
No, please wait!
Really! A whole year passed since then already...fortunately not inactive, because some conquered the - admittedly controversially received - short stays studies.
I'd like to give thanks to
and
They've wonderfully attested how individually the pattern can be assembled. Their blogposts tell about the easy and also the challenging parts as well as about the unique and highly comfortable fit.
I've hold a workshop earlier this year and I'd like to recommened to gather in small groups to draft, drape and fit the mock-up, because if this obstacle is taken, the result is a fitted and very comfy garment. Furthermore it's great fun to be surrounded my like-minded friends and sew!
...und nun zurück zu dem anfangs erwähnten Fund,
der mir - aus heiterem Himmel - diesen vertrauten Anblick
bescherte:
...back to the beginning and the find, which - out of the blue - brought me this familiar sight:
Ich hoffe, meinen Lesern hat es nun ebenso die Sprache verschlagen, wie mir vor ein paar Wochen!
Ich hatte das Gefühl auf einen Schnürleib nach J.S.Bernhardt zu schauen...und das dringende Bedürfnis, schnellstens Kontakt mit dem Museum aufzunehmen!
Ein reger Informationsaustausch nahm seinen Anfang und ich erhielt von den großartigen Kuratoren
detailierte Fotos, Beschreibungen und eine Skizze, um das Stück nachzuarbeiten und meine Vermutung zu untermauern, dass es sich nicht wie inventarisiert um ein Stück aus der Zeit zwischen 1825-75 handelt, sondern um einen frühen Schnürleib.
(Hinweis: Die Beschreibung und Datierung auf der Museumsseite wird in Kürze geändert)
I do hope my dear readers are as speechless as I was weeks ago!
I felt like looking on a pair of stays according to J.S.Bernhardt's books...and I felt the urge to quickly get in contact with the museum!
A vivid exchange of information started and the amazing curators supplied me with detailed photos, descriptions and a drawing, to be able to re-create the garment and proof my speculation, that this is not a piece from the 1825-1875 (like jotted in the inventory), but an early pair of short stays.
(Note: The description and date on the museum's website will be changed accordingly soon)
Es galt viele Fragen zu klären! Das Vorderteil entspricht in seiner Form und der Ausarbeitung der Brustpartie den Schnürleibern nach J.S.Bernhardt, aber was hatte es mit dem merkwürdigen Verschluß auf sich? Waren da irgendwo Schlitze in den Seiten?
Handelte es sich um einen Umstandsschnürleib?
There were many questions to answer! The shape of the front and the bust gussets are completely like those in J.S.Bernhardt books, but what about the back and closure? Have there been slits in the side pieces for the band?
Was it a pair of gestation stays?
Nur eine Nacharbeitung konnte Aufschluß geben, aber es sei vorab erwähnt, dass es weder Schlitze in den Seiten gibt, noch dass es sich um einen Umstandsschnürleib handelt.
Die Maße des Originals:
Breite des Vorderteils Unterbrust (B-Linie) 34 cm
Breite des Vorderteils über der Hüfte 30.5 cm
Länge 30 cm
Größe des Brustkeils 7 cm Länge bei 7 cm Breite am oberen Rand
Die Trägerin war also vermutlich sehr schlank (jung?) bei einer Größe von etwa 1.65 und einer modernen Körbchengröße 'B'
Und ihr Schnürleib war wohl durchdacht und unglaublich praktisch, was ich durch die Nacharbeitung wunderbar belegen konnte.
Das Kleidungsstück konnte ohne Hilfe angezogen werden...womit wir bei dem französischen Begriff 'Corset a la Paresseuse' wären, dem Schnürleib für Faule!
Only a re-creation could reveal the purpose, but I like to mention that there are neither slits in the side seams, nor that it is a pair of gestation stays.
The measurements of the original:
width of the front underbust (B-Line) 34 cm
width of the front above hips 30.5 cm
measurements of the bust gusset 7 cm lenght with a wide of 7cm at the top
The original wearer probably was very petite (young?) with a height of approx. 5'5'' and a modern bra cup size 'B'
And her stays were well thought out and amazingly practical, what I could proof with the re-creation.
The garment could be put on without any help...which leads us to the french term 'Corset a la Paresseuse', stays for the lazy!
Diese Art der Schnürleiber findet (nach meiner Quellensuche) erstmals etwa um 1805 Erwähnung in Anzeigen...in den 1820ern ist es dann schließlich ein gängiger Begriff.
This kind of stays is mentioned (according to my research) first around 1805 in some adverts of staymakers...by the 1820 it is a common term.
1806, Le Moniteur de Judiciaire de Lyon (Quelle/
source:
googlebooks)
1807, Feuille de Valencienne (Quelle/
source:
googlebooks)
Aber warum ein Corset a la Paresseuse und kein Umstandsschnürleib?
Die Nacharbeitung hat gezeigt, dass der Verschluß so sitzt, dass es durchaus sehr unbequem wäre, zudem sind Haken und Ösen angebracht, der Verschluß kann sich also nicht anpassen.
Natürlich ist es nicht gänzlich auszuschließen, dass es zuvor Bänder waren, die verknotet wurden.
Allerdings ist der Verschluß eine clevere Wahl, denn er lässt sich durch den Stoff hindurch lösen (es sind keine Schlitze im Rockteil vonnöten, so wie sie noch zu Beginn der 1800er Jahre zu finden waren), was dem Zweck dieser Unterbekleidung doch sehr zugute kommt.
Getragen wurden sie nämlich vornehmlich am Morgen und während der Reise in einer Kutsche.
But why a Corset a la Paresseuse and not a gestation corset?
The re-creation has revealed, that the closure sits right on the belly, which would be quite uncomfortable, furthermore the hook & eye closure indicates that there's no tolerance for adjusting.
Certainly I can't completely exclude the idea that it might have been ribbons before, which have been tied.
However the hook & eye closure is a very clever choice, because it can be opened and closed through the fabric (no need for side slits in the skirt, which were still seen in the early days of around 1800), which supports the purpose of the stays.
They were usually worn during morning and while travelling in a coach.
Diese Art des Schnürleibs war nicht nur äußerst kommod was das Ankleiden betrifft, sondern auch die Anfertigung ist a la Paresseuse.
Es gibt lediglich ein Vorderteil, zwei Rückteile und zwei Brustkeile.
Bevor ich den Weg zum fertigen Schnürleib beschreibe, noch ein paar wichtige Details des Originals.
Es ist komplett handgenäht, zweilagig gearbeitet aus Baumwollköper und mit Köpernahtband eingefasst.
Das Vorderteil (im Gegensatz zu den Bernhardt Schnürleibern) ist im geraden Stofflauf geschnitten, während das Rückteil an der Nahtkante leicht schräg läuft, was durchaus Sinn macht, denn der Verschluß, der um den Körper geführt wird, benötigt ein gewisses Maß an Stretch.
This kind of stays wasn't solely comfortable in the aspect of getting dressed, but also the construction is quite a la Paresseuse.
There's only one front piece, two back pieces and two bust gussets.
Before I share the construction, I would like to share a few important details of the original.
It is completely hand-sewn, made of two layers of cotton twill and bound with twill trim.
The front is cut on the straight fabric (contrary to the Bernhardt stays), while the back is slightly on the bias, which makes sense, as it is the back, which comes around to be closed in the front, hence it calls for some stretch.
Für das Schnittmuster wird die B-Linie benötigt, also das Maß direkt unter der Brust von Mitte des linken Arms zur Mitte des rechten Arms. Dieses Maß wird halbiert!
For the pattern you'll need the B-Line, the measurement directly below the bust from the mid of the left arm to the mid of the right. Take the half of this measure!
Bitte immer zunächst ein Probestück fertigen!
In dem Schnitt sind keinerlei Nahtzugaben enthalten!
Die B-Linie (grün) sollte im individuell vergrößerten Ausdruck die zuvor ausgemessene Länge erhalten.
Es ist keinerlei Brustkeil in dem Schnittmuster vorgegeben, da dieses (ebenso wie die Länge des Schlitzes im Patron des Vorderteils) sehr individuell ist und unbedingt nach den persönlichen Maßen angepasst werden sollte, die Form kann dabei von einem Dreieck bis hin zu einer halbrunden Form variieren.
Die Seitenlinie (rot) muß unbedingt im fertigen Schnitt angepasst werden, denn sie sollte - gleichgültig der Vergrößerung des Schnittes - keinesfalls länger als 13.5 cm sein!
Please always do a mock-up first!
There's no seam allowance included in the pattern!
The B-Line in your individually resized and printed pattern should have exactly the lenght of your measure.
There's no bust gusset displayed in the pattern, because this (like the length of the bust gusset slit in the patron) is highly individual and should be assembled according to your very shape, the gusset piece can vary in the shape from a triangle to a more rounded shape.
The side seams (red) have to be adjusted in your printed pattern, because - no matter of the re-sizing- it should not be longer than 13.5 cm!
Mein Vorderteil Schnittmuster/ My front piece pattern...
...das Rückteil/ the back piece...
...und der individuell angepasste Brustkeil
...und the individually adjusted bust gusset
Dem Original folgend habe ich mich für zwei Fischbeinstäbe entschieden. Da mein vorhandenes Fischbein eine andere Stärke hatte, wurden zwei Stäbe zusammengeklebt.
Statt der Fischbeinstäbe kann auch ein Blankscheid/Blankscheit verwendet werden, das bleibt der Vorliebe der Trägerin überlassen.
Following the original closely I decided to use boning. As the boning in my stock had a different size I taped two pieces together.
Instead of boning, you could also choose a busk, just follow your preferance.
Bitte zunächst ein Probestück fertigen!
Das geht wirklich schnell und lohnt sich. Es sind so wenig Nähte, dass ich sogar den Probeschnitt von Hand genäht habe!
Please do a mock-up first!
It is quickly done and very worth the effort. There are so few seams that I've even sewn the mock-up by hand!
Mein Utrecht Schnürleib
My pair of Utrecht Stays
Der einzige Aufwand ist es, den Schnürleib mit Nahtband einzufassen.
Von dem Band werden etwa 5 Meter benötigt.
The only labour is the binding with twill trim. Approx. 5 metres of binding are necessary.
Die Seitennähte habe ich mit dem doppelten Saumstich genäht.
The side seams are sewn with doppelter Saumstich (doubled seamstitch)
Die Kanäle für das Fischbein und der eingefasste Rand
The channels for the boning and the twill trim binding.
Die Schulterbänder sind nicht gerundet und werden mit einfachen Kordeln an das Vorderteil geknotet.
Das bedeutet, bei diesem Schnürleib sind nur vier Nestellöcher vonnöten!
The shoulder straps aren't rounded. They are fastened with ribbons to the bodice.
This means, the stays only call for four eyelet holes!
Ein Haken, eine Öse statt vieler Schnürlöcher!
One hook, one eye instead of plenty lacing holes!
Und so sitzt der Schnürleib schließlich am Körper. Die Ähnlichkeit des Utrecht Schnürleibs zu den Schnürleibern nach J.S. Bernhardt ist nicht von der Hand zu weisen.
And this is how the stays embrace the body. In comparison the similarity of the Utrecht stays
to the J.S.Bernhardt stays is evident.
Bei diesem Stück habe ich mich in den Details nah an das Original gehalten, jedoch habe ich schon den nächsten Schnürleib geplant. (Übung macht den Meister!)
Ich werde dabei einige Änderungen vornehmen, so gefallen mir zum Beispiel gerundete Träger besser (oder ich verlängere sie und nähe sie gar gleich an das Vorderteil), auch werde ich die kleine Lücke zwischen dem Ende der Fischbeinstäbe und dem unteren Rand beim nächten Mal auslassen.
Noch gespannter aber bin ich auf die Werke meine Leser!
Ich hoffe, die Bernhardt Schnürleiber und der Utrecht Schnürleib finden bald größere Verbreitung, denn sie sind nicht nur indivduell für die ebenso einzigartigen Körper der Trägerinnen, sie sind auch noch historisch verbrieft!
Zuletzt möchte ich nochmals meinen herzlichsten Dank an das
Centraal Museum in Utrecht und die großartigen Kuratoren zum Ausdruck bringen.
Übrigens, ein Museumsbesuch lohnt immer!!!
I tried to assemble this pair as close to the original as possible, however I've already planned the next pair. (Practise makes perfect!)
I will then add some changes, like I personally prefer round shaped shoulder straps (or maybe I slightly prolong them and stitch them to the front), I will also skip the small gap between the end of the boning and the lower edge.
But even more interested I'm about what my readers will assemble!
I do hope, the Bernhardt stays and the Utrecht stays will finally become more widely spread among the historic seamstresses, because they're not only individual in the pattern like in the shape of their wearer, they are also historically correct!
By the way, a visit to the museum is always a good idea!!!