Dienstag, 23. März 2021

Hoyards Pariser Reise-Korset 1805 [Schnürleib Studien IV (short stays studies)]

Es sind nun annährend zehn Jahre verstrichen seit ich Johann Samuel Bernhardts Bekannschaft geschlossen und seine Arbeit kennengelernt habe, eine fruchtbare Zeit, die mich Schritt für Schritt näher an die Menschen hinter der Kleidung geführt hat. Seinen Spuren folgend entdeckte ich den Utrecht Schnürleib und allmählich füllte sich mein Notizbuch mit weiteren Primärquellen aus Journalen, Briefen und Biographien, die immer neue Verbindungen herstellten und noch herstellen, kurz: Recherche ist eigentlich nie abgeschlossen, sondern in ständigem Wachstum und Wandel...und sie lebt davon, dass man als Verfasser auch nach Veröffentlichung in weiterführende Diskussionen einbezogen wird! In diesem Zusammenhang liegt es mir am Herzen darauf hinzuweisen, dass meine Arbeit und die Schnittmuster zwar kostenlos sind, dennoch aber das Copyright gilt, also u.a. eine Namensnennung/Verlinkung verbindlich ist.
 
Die Überschrift verrät es schon, der heutige Beitrag wird von einem besonderen Schnürleib handeln, nämlich einem Reise-Korset...und damit verbunden zu einer Reise zurück in die Zeit um das Jahr 1805.
Wie üblich darf ich an dieser Stelle die Empfehlung zu einer Tasse (oder Kanne) Thee aussprechen und dann geht es auch schon los - nun, beinah! 
Denn bevor wir gemeinsam auf die Kutsche steigen und die Reise antreten, lohnt sich ein Blick in eine Publikation aus dem Jahr zuvor. In August von Kotzebues Buch Erinnerungen aus Paris im Jahr 1804  lässt er uns an einem (fiktiven) Gespräch zwischen einer ehemaligen Reifrockverkäuferin und einem vormaligen Schnürbrustschneider in den Tuillerien teilhaben, in dem Letzterer beklagt:
1804, August von Kotzebue Erinnerungen aus Paris im jahr 1804 (Quelle: googlebooks)

Transkription:
[...]schon als man statt der Schnürbrüste mit Fischbein die bloßen Corsets einführte, sagte ich gleich die Revolution voraus[...]

Obschon seit der Revolution einige Jahre vergangen waren, blieb das Thema aktuell. Die neuen Corsets (oder auch Schnürleiber) waren tatsächlich Teil großer Veränderungen. Sie entsprachen dem Zeitgeist der 1790er Jahre, in denen alles in Bewegung und Wandel war, hin zur Simplizität und Natürlichkeit.
Aber der Wandel geschah langsam und während dieser letzten Dekade des 18.Jahrhunderts waren zwar die modernen Schnürleiber in Mode und verbreiteten sich, aber auch die Schnürbrust hielt sich unter einigen Kleidern. Die Stimmen der Ärzte aber, vor allem die von Samuel Thomas Sömmerring (1755-1830) verstummten überraschenderweise nicht, denn obwohl der neue modische Kleiderschnitt der hohen Taille kein Schnüren verlangte, schien ein "Überschnüren" gerade im ersten Jahrzehnt des 19.Jahrhunderts wiederzukehren oder es ist niemals wirklich verschwunden gewesen.
Möglicherweise schienen die Modejournale, stets auf Idealisierung bedacht, daran nicht ganz unschuldig, denn auf vielen Kupfern sehen wir bei den Korsetts (auch Corset oder Korset)/Schnürleibern um 1800 keinerlei Schnürlücke (siehe auch: Short Stays Studies - Schnürleibstudien, Bild 1 und Bild 2)
1813, Journal des Dames et des Modes, Costume parisien No.1337 (Copyright: Collection Cristina Barreto Lancaster)

Der alltäglichen Praxis eines auf Stoß geschnürten Corsets widerspricht J.S.Bernhardt in seiner Publikation deutlich, wenn er schreibt:
 
1810, J.S.Bernhardt, Anleitung den menschlichen Körper, besonders aber den weiblichen zu kleiden und zu verschönen (Quelle: slub Dresden)

Transkription:
[...]Eine Schnürbrust soll den Leib festhalten, und beim Schnüren nicht ganz zusammen gehen[...]
 
Bernhardts Erläuterung spricht aus seiner jahrelangen Erfahrung, denn die inhaltliche Sammlung für seine zweibändige Publikation begann bereits in den 1790er Jahren als er als Schneidermeister in Dresden niedergelassen war. 
Die nur wenig versteiften (und zum Teil im Querverlauf geschnittenen) Schnürleiber der 1790er und des frühen 19.Jahrunderts geben beim Tragen aufgrund der Stoffbeschaffenheit immer ein wenig nach. Beabsichtig man, sie ohne Schnürlücke herzustellen, mussten die Schnürleisten weiter auseinanderliegen und entsprechend zugeschnürt werden. Das Körpergewicht und die Leibesform sind allerdings in ständiger Fluktuation, was bedeutet, dass eine zu wenig zurückgeschnittene Schnürleiste möglicherweise plötzlich überlappt. Aus diesem Grund wurden die Seitenteile mitunter zu weit zurückgeschnitten und mussten entsprechend eng geschnürt werden, um dem Ideal der Modekupfer zu entsprechen.

1804-1808, Schnürmaschine (Quelle: Deutsche Digitale Bibliothek, Kunstbibliothek - Staatliche Museen zu Berlin)

Der obige Druck stammt wahrscheinlich aus einer der zahlreichen ärztlichen Veröffentlichungen gegen das Über-Schnüren und - hier widerspreche ich der Beschreibung des Museums - zeigt die von den damaligen Ärzten gegenüber Korsettschneidern geäußerten Bedenken gegenüber dem Schnüren in der Schwangerschaft.

ca.1800, Effets merveilleux des lacets, Numéro d'inventaire G.10862 (Quelle: Musée Carnavalet)

Aber die Darstellungen zeigen nicht nur die schon damals konträr vertretenen Positionen zum Schnüren, sondern in beiden Bildern ist auch etwas Bemerkenswertes in der Konstruktion der Korsets gezeigt, das meiner Aufmerksamkeit bislang entgangen und erst durch eine zufällig entdeckte Textstelle im Journal des Luxus und der Moden aus dem Jahr 1805 an Bedeutung gewonnen hat.
Nun ist es an der Zeit, der Beschäftigung zu frönen, die nicht wenige gut gestellte bürgerliche Damen und solche von Stand für sich entdeckt hatten: die Reise!

1803, Louis-Léopold Boilly, L'arrivée d'une diligence dans la cour des messageries (Quelle: wikicommons)

Und für die Reise verpflichtend war natürlich eine entsprechende Ausstattung:

1805, Journal des Luxus und der Moden, Mai, Modenbericht (Quelle: ThULB Jena)

Transkription:
[...]Zu der Gemächlichkeit der reisenden Damen sind einige sehr nützliche Artikel erschienen, deren Anzeige hier gerade noch recht kommen wird, damit die Damen bei ihren häufigen Sommerwanderungen in Bäder Gebrauch davon machen können, und so durch Vereinigung von vielen nöthigen Stücken, deren Entbehrung ihnen oft das Vergnügen der Reise verleitet, ihre Toiletten oder Arbeitsbedürfnisse, in eleganten und kompendiösen Format, das wenig mehr Platz als ein Buch einnimmt, mit sich führen können[...]
1805, Journal des Luxus und der Moden, Mai, Modenbericht (Quelle: ThULB Jena)

Transkription:
[...] Der dritte Artikel ist eine neue Art von Korset für die Damen. Es ist so eingerichtet, daß dessen mehrere Züge, alle von verschiedener Länge zusammen in einen Laufen, und durch ein einziges Knöpfchen, oder Bandschleife, bei dem Anziehn, so eng oder weit als man es beliebt, befestigt werden. Die große Gemächlichkeit dieser Korsets, welche die Damen in einer Minute anlegen können, und doch eben so gut geschnürt sind, als bei einer Stunden langen Toilette an den gewöhnlichen, so wie die besonders gute Haltung, welche sie dem Körper und den Kleidern geben, verschaffen ihnen in Paris den größten Beifall. Auch brauchen sie auf kein bestimmtes Maaß gemacht zu seyn, da die Züge und Plattschnüren, welche um das ganze Korset laufen, so eingerichtet sind, daß, durch ein stärkeres oder geringeres Anziehen derselben, die Enge oder Weite bestimmt wird. Sowohl in doppelten Dimitti als Taffent erhält man solche a 2 Thaler 8 Groschen.

Alle benannten Modenartikel, denen der Preis und 8 Groschen Emballage beigefügt wird, verschafft man sich durch postfreie Briefe an Herrn Hoyard und Comp bei Mitweyda in Leipzig oder Lichtenauer in Hannover[...]

Was bietet Herr Hoyard da an? 
Und ähnelt die beschriebene Konstruktion der Schnürung nicht verblüffend den zuvor abgebildeten Schnürmaschinen...und diesem bekannten Korsett aus den 1830ern:
1830-1840, Woman's Corset, Costume Council Fund M63.54.7 (Quelle: LACMA)

Die Datierung des erstmaligen Erscheinens der Fächerschnürung in der Modewelt muß also revidiert werden! 
Nicht erst in der Hoch-und Spätzeit des Biedermeier, beziehungsweise frühestens in den ausgehenden 1820er Jahren, fand diese Art der Schnürung durch Plattschnüre und Züge ihre Anwendung, sondern bereits um 1805 ist sie durch die Textstelle im Journal des Luxus und der Moden belegt.

Offen bleiben in diesem Zusammenhang aber gleich mehrere Fragen. Herr Hoyard, der laut der Zeitung für die elegante Welt als Importeur in Kassel, Mittelgasse Nummer 82, ansässig ist, taucht erstmals im Januar 1803 namentlich in der Leipziger Zeitschrift im Intelligenzblatt auf, wo er seine Anzeigen für Modeartikel aufgibt. Zunächst betätigt sich der Herausgeber der Zeitschrift Voss & Comp. Leipzig als Kommissionär seiner Artikel, aber bald schon werden seine Waren über J.C.G Lichtenauer in Hannover und Mittweyda in Leipzig vertrieben.
Ab Herbst 1803 berichtet auch erstmals das Journal des Luxus und der Moden über sein Warenangebot und zwar nicht im Intelligenzblatt (also durch ihn bezahlte Anzeigen), sondern in den Modenberichten.
Nach dem oben transkribierten Beitrag verliert sich die Spur von Herrn Hoyard, ehe er 1817 wieder als Importeur von Kosmetikartikeln Erwähnung in der Leipziger Zeitschrift findet.
War sein Reise-Korset ein Misserfolg? Oder gab es andere Gründe für sein Verschwinden?
Wenn es an seinem Angebot vom Mai 1805 lag, was könnte möglicherweise ausschlaggebend gewesen sein?
War die Idee der Fächerschnürung gar keine Novität, sondern wurde schon länger praktiziert?
Übernahmen die Damen diese Art der Schnürung einfach für ihre bereits vorhandenen Schnürleiber und arbeiteten diese entsprechend um?
Erwies sich sein Versprechen, dass die Korsets nicht auf Maß gefertigt werden mußten, beziehungsweise in einer Art Einheitsgröße verschickt wurden, als nachteilig?
Bezog sich dieses "Maaß" nur auf die Weite der Seitenteile/Schnürlücke oder auch auf eine Einheitsgröße der Brustzwickel? Konnte das gutgeheißen werden? Immerhin der Modebericht richtete sich an die gehobene bürgerliche Schicht und eine einheitliche Größe mochte sehr an die Kleidung erinnern, die uns in folgender Ausgabe begegnet:
1793, Die Hausmutter in all ihren Geschäften, Fünfter und letzter Band (Quelle: googlebooks)

Transkription:
[...]Er billiget diejenige Art, welche die Weiber auf dem Lande tragen, die die Brust nicht zusammen schnüren, und weiter nichts thun, als daß sie selbige blos gerade halten. In dergleichen Schnürleibern liegt die Brust bequemlich; sie sieht darin nicht anders aus, als so, wie sie wirklich ist[...]

Moralische Wochenschriften, Briefe und Beiträge aus Journalen geben preis, dass bürgerliche Damen und jene von Stand zwar immer Simplizität und Natürlichkeit begrüßten und Bildung forderten, nicht aber für die Landbevölkerung oder das Personal im Haus - und keinesfalls wollte man deren Kleidungsstil übernehmen.
Ob es an der Abgrenzung und Eitelkeit der Leserinnen gelegen haben mag oder Hoyards Rückzug andere Gründe hatte, bleibt vorerst Spekulation, Tatsache bleibt, dass er uns die Bestätigung der Fächerschnürung für sein Reise-Korset gibt.

Nach meinem frühen und zugegebenermaßen dilettantischen Versuch eines 1820er Halb-Korsetts a la Paresseuse und der dann folgenden Nacharbeitung des Utrecht Schnürleib, stand der Entschluß rasch fest, dass ich Hoyards Beschreibung des Reise-Korsets in ein glaubwürdiges Stück nach J.S.Bernhardts Quadratsystem umsetzen wollte, denn leider konnte ich es ja nicht einfach bei Lichtenauer oder Mitweyda bestellen...
Es sollte möglichst simpel zu fertigen sein und dennoch eine gute Haltung garantieren, dabei die Bequemlichkeit der Bernhardtschen Schnürleiber nicht missen lassen.
 
 Vorbereitung
Wie immer bei diesem Quadratsystem muß zunächst die Linie "gg" ermittelt werden:
An der Stelle der Schulter, die am weitesten nach vorne ragt, wird in senkrechter Linie ein Lineal angelegt, das hinunter bis zur Mitte des Busens reicht (grüne Linie). Von diesem Punkt aus wird Maß genommen bis zur Mitte des Rückens bzw der Wirbesäule.
Üblicherweise liegt der Wert zwischen 20 bis 30 Zentimetern. Der ermittelte Wert wird nach Bernhardt durch 7 geteilt:
beispielsweise 26 : 7 = 3,7
Dieser Wert widerum ist der Multiplikator für das folgende Schnittmuster (auf Milimeterpapier gezeichnet):
 
Hoyards Pariser Reise-Korset 1805 (Interpretation)

Ist der Multiplikator ermittelt, wird das Schnittmuster entsprechend vergrößert (das blaue Quadrat erhält die Größe des ermittelten Multiplikators).
Achtung: das Schnittmuster enthält keine Nahtzugabe!

Wie immer empfehle ich einen Probeschnitt zu fertigen, glücklicherweise geht das bei dem vorliegenden Modell recht geschwind, denn es besteht lediglich aus zwei Leib-Schnittmusterteilen, den Schulterriemen, Brustzwickel und dem entsprechenden Futter.


Da ich immer wieder über Fragen stolpere, ob denn statt des einen auch zwei Brustzwickel eingesetzt werden können und Mme Oiseau den Bernhardtschen Schnürleib Figur C. derzeit mit dem doppelten Zwickel fertigt (und mich dahingehend inspiriert hat), nahm ich mir vor, diese Variante auch an Hoyards Reise-Korset zu verwirklichen.
Zudem kürzte ich die Höhe der Seite ein wenig ein, damit der Rand des Reise-Korsets auch beim  Sitzen nicht in die Hüfte schneidet. Achtung: Das Rückenteil ist etwa 3 Zentimeter breiter als in den Bernhardtschen Schnittmustern und ich habe es entsprechend angepasst, oben schmaler unten weiter.
Mein Schnitt beinhaltet folgende Änderungen:
 

Und dann ging es ans Tuch! Ich entschied mich gegen den im Journal erwähnten Taft und griff auf einen Baumwollköper (Dimiti) aus meinem Bestand zurück, wobei die äußere Lage feiner, die zweite Lage fester ist. J.S. Bernhardt empfiehlt den Schnürleib auf eine ordentliche Art zu nähen, was das Futter betrifft, sodass man ihn auch wenden kann.
Die Rückenlinie des Schnittteils muß gerade an den Nahtverlauf angelegt werden, sodass der Stoff nach vorn zur Mitte hin im Querverlauf arbeitet.
 

Da ich - nach Bernhardts Empfehlung - lieber Fischbein statt einen Blankscheit (auch: Blankscheid) verwende, habe ich die beiden Kanten von Oberstoff und Futter gegeneinander eingeschlagen und mit dem doppelten Saumstich mit der zweiten Hälfte zusammengenäht. Rechts und links der entstandenen Naht durch alle Lagen werden dann die beiden Kanäle für das Plastikfischbein abgesteppt. Dazu verwende ich gefärbtes Garn. Insgesamt hat das Korset sechs Fischbeinstäbe. 
Die Brustzwickel bestehen aus einer einzigen Lage Stoff. Wie Zwickel eingesetzt werden, habe ich hier beschrieben: Never go anywhere without the proper underwear!



Da bei Hoyards Reise-Korset mit Zug gearbeitet wird, müssen Schnürlöcher gestochen und genäht werden. Hier kann man entweder Löcher für die Kreuzschnürung oder die Spiralschnürung wählen. Ich entschied mich für Letzteres, da bei den meisten Schnürleibern um 1800 diese Variante noch vorherrscht.


Und dann geht es an das Schnüren der Züge, wobei ich wie in Hoyards Beschreibung Plattschnüre aus Baumwolle verwende. Sie sind fein geflochten, flach und etwa 5 Milimeter breit.


Die Plattschnüre werden innen jeweils gegenüber dem Schnürloch angenäht, von hinten durch das Loch gefädelt und dann zur gegenüberliegenden Seite zurückgezogen, um eben jenen notwendigen Zug für das Schnüren zu erhalten.


Die unterschiedlichen Längen der Plattschnüre sind nicht so gravierend wie Hoyards Text denken lässt.
Die einzelnen Bänder laufen in eines, indem man sie zusammenflechtet. Das funktioniert mit Plattschnüren recht gut, denn auch im geflochtenen Zustand neigen sie nicht dazu unter dem Kleid aufzutragen.


Ich entschied mich gegen das erwähnte Knöpfchen und für eine Bandschleife. Falls die einzelnen Plattschnüre doch zu lang sind, kann man sie an der Nahtstelle zum Schnürleib regulieren und entsprechend aufgefaltet annähen.



Das Schleifenband des Zuges habe ich ebenfalls für die Schulterriemen verwendet. Dabei fiel die Wahl auf zwei Löcher pro Schnittteil, auch hier kann man nach eigenem Geschmack verfahren.


Da ich kein Saumband mehr in meinem Stoffvorrat hatte, diente mir ein Band aus dem Oberstoff zum Einfassen. Es wurde im geraden Stoffverlauf zugeschnitten.


Meine Interpretation von Hoyards Reise-Korset von 1805. Es ist bequem, auch bei längerem Sitzen (wie in Kutschen) und mit winterlich genährtem Embonpoint.
Leider mußte ich feststellen, dass bei zwei Brustzwickeln pro Seite für meine Figur ein Blankscheit ratsamer gewesen wäre, oder ich zum Plastikfischbein besser nur einen Zwickel pro Seite gewählt hätte...aber die nächste Reise ist noch ein wenig hin und für den Sommer wird es sicherlich noch ein zweites Reise-Korset geben - es ist ja glücklicherweise schnell genäht!




Das Anziehen nimmt tatsächlich kaum eine Minute in Anspruch. Die Schnürlücke ist nach Bernhardts Wohlwollen gefertigt (etwa ein Zoll), und kann mit dem Zug vorn über die Bandschleife reguliert werden.
Im Gegensatz zum Utrecht Schnürleib, stützt das Reise-Korset den mittleren Rücken besser.




Ich kann verstehen, dass die Pariser Damen begeistert waren...wenn man Herrn Hoyard denn bezüglich dieser Werbung Glauben schenken darf. 
Es gibt noch viel zu entdecken! Und sobald Reisen wieder möglich sind, sollte Hoyards Modeartikel wohl hoffentlich so manche Fahrt bequemer machen!
 

...bis es soweit ist, sei verraten, dass Hoyards Reise-Korset auch beim Verfassen der Korrespondenz für viel Bequemlichkeit sorgt!


Weiterer Lesestoff über die Schnürleiber um 1800:
 
 
 

Montag, 1. März 2021

Mit Schirm, Charme...und Sonnenschein!

Der zurückliegende Februar hatte es wirklich in sich! 
In der einen Woche rutschten die Temperaturen hier in Westfalen unter -15° Celsius und wir hatten reichlich Schnee, um in der darauffolgenden Woche auf ungeahnt frühlingshafte +17° Celsius zu klettern, frei nach dem Motto: Februar ist der neue April!
Und es ist ja sicherlich allgemein bekannt, dass sich bei dem ersten Sonnenschein ein besonderes Schauspiel im Freien ereignet. Durch die ersten warmen Sonnenstrahlen geweckt, beendet der possierliche gemeine Sonnenschirm (lat.umbrella parasolii minor) den Winterschlaf.
Hier ist ein nordeuropäisches Exemplar kurz nach Beendigung der Winterruhe.

Bei Temperaturen über 15°Celsius dauert es nicht lang, ehe sie sich ausstrecken und in voller Pracht präsentieren!

Gestreckt erreicht dieser ausgewachsene Sonnenschirm eine Länge von 68 Zentimetern und eine Spannbreite von 48 Zentimetern, damit gehört er zu den eher kleinen Exemplaren.


Ist das nicht ein herrlicher Anblick im ersten Vorfrühlingssonnenschein?
Mit dieser Schönheit lockt er auch nicht selten artfremde Weibchen an...
Aber nicht nur Sophie ist begeistert von dem Schirm, sondern auch ich habe mich riesig gefreut, als mein ehemals recht heruntergekommener Schirm aus Turin zurückgekehrt ist.
Dort hat das kleine Schirmchen bei Parasols & Co. durch Antonias Handwerkskunst zu einem dritten Leben gefunden.
Ihr Service und ihre Beratung sind absolut empfehlenswert, wobei man als Kunde über jeden Schritt der Wandlung in Kenntnis gesetzt wird. Antonia hat mir, nachdem der Schirm von seinen verfransten Seidenresten befreit und das Gestellt justiert und gereinigt war, eröffnet, dass der Schirm aus den 1830er Jahren stammt und in den 1860ern erstmals umgewandelt worden war, wobei die Fischbeinstäbe einfach unfachmännisch eingekürzt wurden, ehe er einen neuen Bezug erhalten hatte.
Ich entschied mich für eine schlichte Neugestaltung und wurde nicht enttäuscht!
 



 
Für den Schirm wurden in den 1830er Jahren Fischbeinstäbe und Elfenbein benutzt, diese Produkte unterliegen heute glücklicherweise dem Artenschutzabkommen und dürfen nicht mehr gehandelt werden.


Mein Parasol ist nicht nur am Griff klappbar, sondern weiter oben sitzt ein weiteres Gelenk, durch welches das Dach abgeknickt werden kann, sodass der Schirm die Funktion eines Fächers übernimmt.


Kaum hielt ich meinen Sonnenschirm nach der Reparatur in den Händen und erfreute mich an all seinen Besonderheiten, tauchte die Frage auf, wann die Schirmchen denn eigentlich den klappbaren Griff erhalten haben. Ich wollte gerne mehr zur Evolution des Sonnenschirms - besonders in den 1790er Jahren - erfahren und das am besten aus erster Hand!
1786, Journal der Moden, Jahrgang 1, Juni, Tafel 18 Weibliche Moden (Quelle: Uni ThULB Jena)

Bereits in der ersten Ausgabe von Bertuchs Journal des Luxus und der Moden (1786 im ersten Jahrgang noch unter dem Titel "Journal der Moden" erschienen), entdecken wir eine Dame mit einem Sonnenschirm, welcher aber noch keinerlei Ähnlichkeit mit meinem kleinen Sonnenschirmchen hat, im Gegenteil, sein Griff ist sehr lang und der Schirm dient gleichermaßen als Spazierstock.
In den kommenden Ausgaben finden wir immer wieder ähnliche Schirme und zwar in einer bunten Viefalt mit wunderschönen seidenen Schirmdächern.
Ein Name taucht in diesem Zusammenhang wiederholt auf: Franz Lorenz Rousset.

1786, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, Zweiter Band, Verlegt bei Friedrich Nicolai (Quelle: googlebooks)

Franz Lorenz Rousset war mit seiner Galanteriewarenhandlung ansässig in Berlin, an der Stechbahn.
Diese Straße lag seit Mitte des 18.Jahrhunderts direkt am Stadtschloss, also eine vornehme Adresse für Händler.
1788, Carl Traugott Fechhelm Schlossplatz mit Blick in die Königstraße (Quelle: Stadtmuseum Berlin)

In Carl Traugott Fechhelms Bild blicken wir direkt von der Stechbahn zum Schloss. Die Straße zwischen Schloss und Spree zierten Bögengänge und Arkaden und eine illustre Zahl an Händlern, wie der Text auf Spiker's Berlin  Die Stechbahn eindrücklich widerspiegelt.
ca.1830 An der Stechbahn, Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Kartenabteilung. Inv. Nr. Kart. Y 44237 (Quelle: Spiker's Berlin)

Rousset reihte sich mit seiner Galanteriewarenhandlung zwischen Kunsthandlungen, Kaffeehäuser, Warenlager und Handwerker ein und besonders seine Schirme fanden immer wieder Eingang in die Journale. Ein besonderes Stück wurde im Jahr 1797 nicht nur im Journal des Luxus und der Moden gleich zweimal vorgestellt, sondern fand auch Erwähnung im Leipziger Journal für Fabrik, Manufaktur, Handlung und Mode: der Parasol a Feuillage.

1797, Journal des Luxus und der Moden, Mai, Tafel 14, Modenbericht aus Teutschland (Quelle: ThULB Jena)

Bereits im darauffolgenden Monat findet sich der besondere Sonnenschirm im Leipziger Journal für Fabrik, Manufaktur, Handlung und Mode, wo ihm ein eigener Modekupfer gewidmet wird.
1797, Journal für Fabrik, Manufaktur, Handlung und Mode, Juni, Tabula II (Quelle: Universitätsbibliothek Heidelberg)

Beide Veröffentlichungen haben gemein, dass die Modekupfer jeweils nur mit sehr kurzen Beschreibungen versehen waren, weshalb das Journal des Luxus und der Moden im September nochmals einen Artikel nachgeliefert und veröffentlicht hat, der auf Ende Juli datiert ist.
1797, Journal des Luxus und der Moden, September, neue Modenartikel (Quelle: ThULB Jena)

Transkription:
[...]Sonnenschirme mit einem Laubdach. Es war ein glücklicher Gedanke, den Sonnenschirmen der Damen das Ansehn eines mit allerley Laubwerk dichtverflochtenen Laubdaches zu geben, welches durch ein besonders dazu in Laubwerk gewirktes oder gemahltes Stück grünen Tafft bewirkt wird, das man über die Stäbe des Schirms spannt. 
Vielleicht geht man nun bald noch einen Schritt weiter, und giebt dem Schirme gerade zu die Gestalt einer Fächerpalme (Borassus flabellifer, Linn.). Wenigstens wäre dieses Raffinement unserm in solchen Erfindungen sehr sinnreichen Parasolfabrikanten, Hr. F.L.Roußet wohl zuzutrauen, der auch diese Laubsonnenschirme hier zuerst in Umlauf  gebracht hat. Man bekommt sie unter der Modebenennung parasols a feuillage in seiner Fabrik allhier von 4 bis 7 Thaler das Stück[...]

Ob der Bericht mit seinem scherzhaften Vergleich einer Fächerpalme bei Rousset bekannt war und eine Initialzündung ausgelöst hat, bleibt spekulativ - Tatsache hingegen ist, dass Franz Lorenz Rousset im Jahr 1798 erstmals einen Schirm vorlegt, der den großen Sonnenschirmen der frühen 1790er Jahre nicht mehr ähnelt, sondern eher jenen Schirmchen der kommenden Dekaden.
1798, Journal des Luxus und der Moden, April, Kupfertafel 10 (Quelle: ThULB Jena)

1798, Journal des Luxus und der Moden, April, Beschreibung der Kupfertafel (Quelle: ThULB Jena)

Transkription:
[...]In der Hand hat sie einen sehr geschmackvollen Fächer-Sonnenschirm (Parasol a l'eventail) von neuestem Geschmacke aus Hrn. Roussets Fabrik allhier. Er ist von gedrucktem Taft mit grünen Feuillage und einem Rosenkranze von recht schöner Zeichnung dekoriert[...]

Nur einen Monat später greift auch das Leipziger Journal für Fabrik, Manufaktur, Handlung und Mode ein solches Fächer-Schirm Modell auf, jedoch findet im Text kein Hersteller Erwähnung.
1798, Journal für Fabrik, Manufaktur, Handlung und Mode, Mai (Quelle: Universitätsbibliothek Heidelberg)

 Transkription:
Auzug
[...]Wenn sie der Hut nicht in allen Richtungen vor den Sonnenstrahlen schützt, so sichern sie sich gegen diesselben durch den grünen Taffetschirm[...] 

1798, Journal für Fabrik, Manufaktur, Handlung und Mode, Mai, Kupfertafel (Quelle: Universitätsbibliothek Heidelberg)

1798, Journal für Fabrik, Manufaktur, Handlung und Mode, Mai, Kupfertafel (Quelle: Universitätsbibliothek Heidelberg)

Der vergrößerter Ausschnitt zeigt die Funktion des Fächer-Schirms. Der Knick nahe am Gestänge, den auch spätere Schirme noch aufweisen, ist bereist vorhanden, allein der Griff selbst lässt sich nicht zusammenklappen.
Und was geschah mit Franz Lorenz Rousset?

1798, Journal für Fabrik, Manufaktur, Handlung und Mode, November (Quelle: Universitätsbibliothek Heidelberg)

Transkription:
[...]Im Oktober zeigte F.L.Rousset in Berlin an, daß er gesonnen sei, seine bisher geführte Handlung (außer der Parasol-Manufaktur, welche er beibehält) aufzugeben, und das Waarenlager, -bestehend in Bielefelder Leinwand, glatten, gestreiften und gestickten Mousselines, glatten und geblümten Klaar, Linons, Batist, Kanten und Zwirnblonden, weißen und schwarzen seidenen Blonden, Piques, Nankins, Westen, Halstüchern, Shawls, schwarzen Glanztaffet, Filet, Kammertuch, gestickten Manschetten, Baumwollen-Garn zum Stricken und Sticken, Bändern, Fächern, silbernen und plattierten Schnallen, Uhrketten, Uhrschlüsseln und Petschaften, Dosen, Ringen, Brieftaschen, plattierten Messern und Gabeln, Spornen, Argent-haché-Waren u.s.w. - zum Einkaufpreise und auch darunter zu veräußern[...]

1799, Journal für Fabrik, Manufaktur, Handlung und Mode, Februar (Quelle: Universitätsbibliothek Heidelberg)

Transkription:
[...]Durch zwei Cirkular Briefe vom 1. und 12.Januar erfuhren wir, daß die Witwe Bardin in Berlin ihren Anteil an der von ihrem verstorbenen Manne vor 25 Jahren errichteten, seit 5 Jahren mit F.P.Rousset gemeinschaftlich geführten und unter der Firma: Gebrüder Bardin, bekannten Seiden-Strumpf-Manufaktur, an den Bruder gedachten Asscie's F.L.Rousset, überlassen, und beide Brüder die Berichtigung aller Activorum und Passivorum gemeinschaftlich übernommen haben. Zum bessern Betrieb der Seiden-Strumpf-und Parasol-Manufaktur hat F.L.Rousset seine bisher geführte Modenhandlung aufgegeben, wird aber allein alle aus letzterer vorhandenen Activa und Passiva liquidiren[...]

War es möglich, dass die Geschäfte Rousset unerwartet derart in Anspruch nahmen, dass seine Parasolmanufaktur eine zeitlang ruhte?
Im November 1798, der Monat, in dem Rousset seine Berliner Modehandlung auflöst, erscheint ein weiterer interessanter Modekupfer im Journal des Luxus und der Moden, dessen Hersteller im Journal keinerlei Erwähnung findet:
1798, Journal des Luxus und der Moden, November, Tafel 33 (Quelle: ThULB Jena)

Auszug 1798, Journal des Luxus und der Moden, November, Tafel 33 (Quelle: ThULB Jena)

Ein sehr kleines Schirmchen. Verdeckt der Ring möglicherweise ein Gelenk? Wahrscheinlich ist der Messingring wohl eher ein Schmuckelement, denn diese Novität hätte gewiss Erwähnung gefunden!
Auch Franz Lorenz Rousset blieb gemeinsam mit seinem Bruder den Parasols und Fächern treu, im Jahre 1805 tritt er auch erstmals wieder im Journal des Luxus und der Moden in Erscheinung und stellt neue Fächer-Schirme vor...von einem Gelenk zum Zusammenklappen der Schirme ist aber keine Rede.

Auch wenn mein Parasol für die Frühromantik wohl ein bisschen anachronistisch ist, freue ich mich, dass er ein drittes Leben eingehaucht bekommen hat und bei den sonnigen westfälischen Sommern wird er mir wohl noch immer gute Dienste leisten können!