Freitag, 22. Oktober 2021

Von London (über Paris) bis Weimar: Galloschen und Ueberschuhe

 Seit ein paar Tagen hält herbstlich regnerisches Wetter das schöne Westphalen fest in den kalten Händen: die Jahreszeit ist da, die auch vor über zweihundert Jahren nicht eben für Begeisterungsstürme sorgte.
Die Kamine brannten, warme Kleidung wurde aus den Truhen und Kästen geholt und - sodenn man es sich leisten konnte - blieb man in der Stube...die Frauenzimmer vornehmlich auch wegen der kalten Füße!
Ja, die kunterbunten feinen Frauenzimmer Modeschuhe, die ich in meinen letzten Beiträgen vorgestellt habe, luden nicht gerade zum Spazierengehen ein, wenn sie auf regennassen Straßen zu ruinieren drohten.
Wie kam man dennoch dazu ein wenig erquickliche Herbstluft zu schnuppern und die winterlich gestimmten faulen Glieder zu strecken?
Mir fiel ein, dass ich vor vielen Jahren (neun, um es genau zu schreiben) einen Beitrag über Trippen verfasst habe, aber taugen die für die feinen Modeschuhe?
Nein, natürlich nicht - daran lässt das Werk "Englische Miscellen" im vierzehnten Band von 1804 in einer Fußnote über Pattens keinerlei Zweifel:
1804, Englische Miscellen, Vierzehnter Band, Johann Christian Hüttner bei Cotta, Tübingen (Quelle: googlebooks)

Transkription:
[...]Die bekannten pattens kommen niemals an den Fuß einer Dame oder wohlhabenden Frau, sondern sind in der Regel blos auf die Frauen des Mittelstandes und besonders des niedrigen Volks eingeschränkt. Sodann trägt man ja die Pattens blos in schlechtem nassen Wetter unter den Schuhen.[...]

Aber Hüttners Text gibt noch weitere Einblicke in die gängige Schuhmode in London, wenn er schreibt:
1804, Englische Miscellen, Vierzehnter Band, Johann Christian Hüttner bei Cotta, Tübingen (Quelle: googlebooks)

Transkription:
[...]Aber die Damen sieht man trotz der bequemen Seitenwege in der Hauptstadt selten zu Fuße, oder wenn es je etwa in der Bondstreet, oder anderswo geschieht, so verpanzern sie meistens den Fuß, der an die wolllüstigen Teppiche der englischen Häuser gewöhnt ist, mit allerlei Arten von Ueberschuhen und Galoschen, so wie die Frauen der mittleren und niederen Stände, aus Furcht vor nassen Füßen die bekannten Pattens tragen. Die Galoschen sind daher eben so sehr der Änderung und Mode unterworfen, als die Schuhe selbst. Diesen Winter findet man in Bondstreet Galoschen, die inwendig mit feinem Pelzwerk gefüttert sind, und die Stelle der Pelzschuhe vertreten können, welche ein junges Frauenzimmer natürlich nicht gern trägt. Die Galoschen gehn stark und werden nach Beschaffenheit des Pelzwerks höher oder niedriger verkauft[...]

Die Galoschen, Galloschen, Golloschen oder Ueberschuhe gingen also mit der Mode und für die 1790er finden sich in einigen Museumssammlungen wunderschöne Exemplare.
ca.1797 Pair of Overshoes, England, Accession Number: 608A&C-1884 (Quelle: Victoria & Albert Museum, London)

1785-1795 Pair of Woman's Overshoes, England (Quelle: LACMA)

Ein weiteres Paar mit vielen Detailbildern befindet sich in der Sammlung Antique Gown (Raimar Kremer), es ist ebenfalls englischen Ursprungs und wird auf das Jahr 1792 datiert.
Einige Überschuhe gleichen vom Entwurf tatsächlichen den eigentlichen Modeschuhen und wurden stets zusammen getragen, wenn es darum ging die feinen Schuhe auf regennasser Straße zu schützen und die Dame trockenen Fußes von ihrem Haus zu einer Geselligkeit zu begleiten.
Jene Galloschen, wie das schlichte schwarze Paar aus der Sammlung des LACMA, waren für verschiedene Paar Schuhe zu verwenden.
Und genau solch ein universeller Entwurf schwebte mir für meine Überschuhe vor.
Gemein scheint diesen englischen Paaren der Lederring, der um den Absatz gelegt wurde, und das Futter aus feinem weißen Lammleder.
Ich ging an die Planung und Materialbeschaffung und beschäftigte mich zunächst mit den lederbezogenen Ringen. Das Victoria & Albert Museum und die Seite Antique Gown geben detailliert Auskunft darüber, dass es sich bei diesen Ringen um lederummantelte Drahtspiralen handelte.
Diese hatte ich bereits vor Jahren in meinem 1801 Corsetlet Corset Soie (Corset Elastique) verwendet und ich war voller Zuversicht noch einen Vorrat davon zu haben...diese Hoffnung zerschlug sich schnell und in der Not der Stunde wich ich kurzerhand auf ein breites Haargummi aus.
Die Fertigung erklärt sich folgendermaßen:

Zunächst wird ein schmaler Lederstreifen in der Länge zugeschnitten, die von der Kante der Sohle um den Absatz bis zur Kante zurück reicht. Dieses Lederstück ist selbstverständlich länger als der Spiraldraht (oder in diesem Fall die Länge des Haargummis).
Um den Kern zu ummanteln wird der Lederstreifen zu einem Ring vernäht und auf einen runden Gegenstand mit entsprechendem Umfang gezogen, sodass die Innenseite aufliegt. Das kann ein Rohr, ein Glas oder wie in meinem Fall ein Gebäckausstecher sein.
Der elastische Kern (Spirale) wird aufgelegt und mit dem Leder eingerollt, anschließend vernäht.
Und heraus kommen die gewünschten Absatzhalter:

Diese werden mit einem Lederstück verklebt und später zwischen Innensohle und Laufsohle verankert.


Das Oberleder ist 2nd Hand und entstammt einer abegetragenen Jacke. Es wurde mit schwarzer Lederfarbe behandelt. Das Futter ist aus einem Restbestand zerschlissener und gerissener Lederhandschuhe.




Geformt wurden die Galloschen über einen Leisten, über welchen bereits ein Schuh gezogen ist. Auf diese Weise ist der Überschuh groß genug, um auf den eigentlichen Schuh zu passen.

Und so sieht ein Überschuh bei seiner ihm zugedachten Arbeit aus:



Während ich mich von der Arbeit in der Werkstatt erholte, freute ich mich am Anblick der fertigen Galloschen und las noch in verschiedenen Werken über diese Schuhmode...


...und landete unweigerlich einmal mehr in Weimar, im Journal des Luxus und der Moden.
Oder genauer gesagt im April 1795 in dem Beitrag über Galloschen und Überschuhe.
1795, April, Journal des Luxus und der Moden, Ueber den Gebrauch der Galloschen und Ueberschuhe (Quelle: ThULB Jena)

Transkription:
[..]Etwas schwieriger sind die Galloschen für Frauenzimmer (Taf.15) wegen des weiten Ausschnitts und der unglücklich hohen Absätze ihrer Schuhe. Die Gebrechlichkeit eines Damenschuhs, der höchstselten von Leder, fast immer von seidenem und anderm Zeuge ist, die sonderbare und unnatürliche Form desselben, und hauptsächlich die Abneigung der Damen etwas Solides an den Füßen zu haben, macht tausend Schwierigkeiten ein Frauenzimmer bey üblem Wetter auf die Beine, oder ihr Galloschen an die Füße zu bringen.
Ich kenne indessen doch eine meiner Freundinnen, die sehr viel auf Bewegung und Gehen, sonderlich des Winters, hält, beynahe täglich, zu großem Nutzen ihrer Gesundheit, spazieren geht, wenn es nur nicht gar zu übles Wetter ist, und dies durch eine sehr gute Verbesserung der weiblichen Galloschen, die sie selbst erfunden hat, bewürkt. Taf.15, Fig.5 zeigt die Form davon. Da der Damenschuh hohe hölzerne Absätze hat, folglich nicht die Ferse, sondern nur die Sohle des Fußes in den Koth treten und naß werden kann, so hat die Gallosche f g e d auch keinen Absatz, sondern nur eine Sohle und ein Oberleder, und Etwas, das diese an den Schuh befestigt, nöthig. Diese Gallosche ist also von schwarzem Kalbleder, mit einer ziemlich starken Sohle, die nur bis g geht, und ist innerhalb, so wie die Riemen, mit weißer Leinwand gefüttert. Von g läuft über das Quartier und die Ferse hinweg, bis auf die andere Seite des Fußes, ein Riemen, der genau abgemessen seyn, und in d eine Spitze haben muß, daß man ihn über die Ferse herauf ziehen kann. Ueber das Fußblatt läuft sodann das schmale Riemchen e g, womit, wenn die Gallosche angezogen ist, dieselbe fest geschnallt wird; wodurch sie gut und sicher sitzt. Ich bekenne freylich, daß diese Galloschen ein wenig mühsamer sind, als die männlichen; allein ist dies nicht überhaupt der Karakter der weiblichen Kleidung? Und sollte dies wohl nicht von dem großen Nutzen, den sie er schönen Welt leistet, weit überwogen werden?
Ich wünsche sehr, daß man die Materie der Galloschen ernstlich beherzige. J.F.B.[...]

Wie kann man Friedich Justin Bertuch, der den Ursprung der Überschuhe übrigens - wie im weiteren Text erwähnt - nach Paris verortet, diesen Wunsch abschlagen? Erst recht, wenn er der geneigten Leserin des Journals noch eine Modetafel an die Hand gibt.
1795, April, Journal des Luxus und der Moden, Kupfertafel 15 (Quelle: ThULB Jena)


Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist nicht nur der Einblick in weibliche Gepflogenheiten des höheren Bürgertums, welchen Bertuch gibt, sondern auch die Tatsache, dass der abgebildete Schuh eher den Modellen entspricht, wie sie Ende der 1780er getragen wurden. Dieser Hinweis zeigt, dass neue Moden nicht grundsätzlich frühere Moden gänzlich verdrängten, sondern sie durchaus nebeneinander her existierten.
Ich orientierte mich bei meiner Nacharbeitung eher an meinen Frauenzimmer Flitterschuhen von 1794.
Wie auch die englischen Überschuhe fertigte ich sie auf dem Leisten über dem eigentlichen Modeschuh, um eine gute Passfrom zu erzielen.
Leider war ich vom Prozess am Werktisch derart eingenommen, dass ich in diesem Fall nicht mit Fertigungsbildern dienen kann, allerdings ist die Vorgehensweise durch Bertuch gut beschrieben und grundsätzlich einleuchtend.


Die Front ist eher abgerundet, wie auf der Kupfertafel Bertuchs und entsprechend meiner Frauenzimmer Flitterschuhe von 1794. Das Schuhblatt ist im Gegensatz zu den englischen Schuhen nicht mit Leder, sondern mit Leinen gefüttert.


Die Riemen habe ich entgegen Bertuchs Beschreibung nicht mit Leinen, sondern mit weichem Handschuhleder hinterlegt. Die kleine Schnalle mißt etwa 11 x 18 Millimeter. Die Riemchen sind 12 Millimeter breit.

Ein direkter Vergleich des englischen Überschuhs mit der Weimarer Gallosche.
 

Die von Bertuch erwähnte "starke Sohle" entspricht im Fall der Nacharbeitung einer Stärke von 3,5 Millimetern.
 

Der Überschuh ist umständlicher anzulegen als jene aus englischer Produktion und sie verdecken selbstverständlich auch mehr vom eigentlichen Modeschuh.

Aber einen gewissen Chic kann man ihnen nicht absprechen! Besonders die kleine Schnalle erweist sich als Hingucker.
Und sie erfüllen bestens ihren Zweck, eine Dame mit dem Versprechen eines trockenen Fußes vor die Tür zu locken.


...denn vor der Tür lauert dieser Tage nasskaltes Herbstwetter und die dunkle Jahreszeit, also schützt eure Schuhe!

Montag, 11. Oktober 2021

Journal des Luxus und der Moden 1794: Von Fanferlüsch bis Frauenzimmer-Flitterschuh

Im heutigen Beitrag geht es auf Schusters Rappen mit außergewöhnlicher Besohlung zurück in das denkwürdige Jahr 1794, genauer gesagt in den Wonnemonat Mai.
In der Modehauptstadt Paris litt man unter dem fürchterlichen Joch der Schreckensherrschaft La Terreur, während im Thürinigischen Jena Friedrich Schiller (1759-1805) am 14.Mai seine Wohnung im Jagemannschen Haus bezog. Wenige Tage bevor auch Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) in der Stapelstadt des Wissens eintraf. Wilhelm von Humboldt (1767-1835) war bereits im Februar übergesiedelt. Wunderbar aufbereitet nachzulesen in Theodore Ziolkowskis Buch "Das Wunderjahr in Jena" erschienen bei Klett-Cotta.
Oh, diese zwiegespaltene Atmosphäre der rollenden Köpfen an der Seine einerseits und der Köpfe voller neuer philosophischer Ideen (die Morgendämmerung der Frühromantik) an der Saale andererseits, hätte die dunklen Herzen der Fanferlüschen - jenen bösartigen Feen, welchen Christoph Martin Wieland (1733-1813) einen Platz in seinem Werk "Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva" (1764) verschaffte und die hier und da auch im Journal des Luxus und der Moden Eingang fanden - mit Sicherheit höher schlagen lassen. 
Das Jahr 1794 bedeutete Aufbruch, Veränderung in allen Bereichen des Lebens...bis hin zur Mode, wovon das Journal des Luxus und der Moden ein lebendiges Zeugnis liefert.
Die Fanferlüschen (aus dem französischen fanfreluche (= Flitterkram)) hätten ihr Vergnügen auch in Weimar gefunden: und zwar den neusten Nippes und Flitter, welcher im Mai 1794 auf dem Modekupfer Nummer 14 gedruckt erschien.
1794, Mai, Journal des Luxus und der Moden, Jahrgang 9, Erklärung der Kupfertafeln (Quelle: ThULB Jena)

 Aber auch wenn das Gold der Schmuckstücke eine gewisse Anziehungskraft besitzt, mein Blick war eher von dem hellblauen Schuh gefesselt. Sehen wir ihn doch mal genauer an:
1794, Mai, Journal des Luxus und der Moden, Jahrgang 9, Erklärung der Kupfertafeln, Detailausschnitt (Quelle: ThULB Jena)

 Noch aussagekräftiger wird die Berechtigung ihn als Novität zu bezeichnen bei einem Blick auf die dazugehörige Beschreibung.
Die Empfehlung zu diesem Schuh entstammt aus einem anonymen Brief von der Hand einer Dame an die Herausgeber des Journals und gemahnt "fremden Moden zu entsagen, und eigene deutsche zu kreieren".
1794, Mai, Journal des Luxus und der Moden, Jahrgang 9, Moden-Neuigkeiten (Quelle: ThULB Jena)

Transkription:
[...]Der Schuh (Taf.14 Fig.4) ist von hellblauen Atlas und reihenweise mit silbernen Flittern besetzt; auf der Rosette wird zur Zierde ein Medaillon von Wedgwood, oder noch besser von vaterländischen Meißner Porcellain *), mit blauem Grunde, so wie man sie zu Rock-Knöpfen der Männer trägt, gesetzt. Bey dem hinteren Quartiere ist eine neue Verbesserung für die Damen-Schuhe angebracht, welche, so wie es die Erfahrung bestätigt, von gutem Nutzen ist, nemlich so, daß der Absatz (wie Taf.14, Fig.4 zeigt) ein wenig über das Quartier hevorsteht, wobey man den Vortheil hat, daß der Schuh nicht so leicht hinten übergetreten werden kann; und der Fuß darin fester ruhet.
*) Die Meißner-Porzellan-Fabrik, die Mutter, und erste Lehrschule der Porzellan-Kunst in ganz Europa, liefert eben so schöne scharfe und geschmackvolle blau und weiße Basreliefs, als die berühmte Wedgwoodsche Fabrik in England die anjetzt Europa mit ihren Producten überschwemmt; und es ist ein lächerliches Vorurtheil letztere jenem vorziehen zu wollen. Die vortreffliche und mit allem recht weltberühmte Meißner Porzellan-Fabrik, deren Waaren an Schönheit und Güte der Maße alle anderen Porzellane in der Welt übertreffen, hat indessen doch mehrere, ja selbst in Teutschland an ihren Töchtern viele gefährliche Rivalen bekommen, die auf alle Art mit ihr um den Kranz ringen. Es ist daher sehr zu wünschen daß Teutscher Patriotismus auch über ihre Erhaltung wache, für die Unterstützung dieses kostbaren Institutes des Teutschen Kunstfleisses sorge, und nicht aus blosser Modesucht fast gedoppelt so theuer von England kaufe, was wir wohlfeiler und eben so schön selbst verfertigen.[...]

Nach dem Studieren der Tafel und Beschreibung, mußte ich gestehen, dass ich diese ersonnene Novität in einer Museumssammlung oder auf anderen Modekupfern bislang noch nie erblickt hatte. Und damit stand recht schnell fest, dass es genau dieser Schuh, bzw. ein Paar werden sollte.
So schnell der Entschluß gefasst war, so langwierig war die Umsetzung, denn erst einmal mußte ein neuer Leisten her. Der abgebildete Schuh war weniger spitz als die späteren Modelle.
Mit dem neuen Leisten fertigte ich zunächst einen Probeschuh, bevor ich mich an die kostbare hellblaue Seide begab, die mir meine liebe Freundin Mme Reeves von Pavillon de la Paix als Reststück eines ihrer Kleider anvertraute.
Überhaupt, vor dem Fertigen steht immer die Materialbeschaffung und in diesem Fall bedeutete das: Flitter!
Aber worum handelt es sich da eigentlich? Auch da hilft das Journal des Luxus und der Moden selbstverständlich weiter.
1794, Oktober, Journal des Luxus und der Moden, Brief an eine Dame über die Kunde verschiedener Waaren (Quelle: ThULB Jena)

Transkription:
[...]Sechster Brief. Flittern und Filigranarbeit. Die kleinen, dünnen, runden, in der Mitte durchlöcherten Metallplättchen, Gnädige Frau, die von vergoldeten oder versilberten Metall, aber auch von Stahl gemacht werden, und womit ich Sie die Weste für Ihren Herrn Gemahl zu schicken beschäftigt fand - die Flittern, um die Sache mit einem Wort zu fassen, sind eine Erfindung Frankreichs, im vorigen Seculum, und Teutschland kennt sie erst seit Anfange des jetzigen Jahrhunderts[...]
 
Flittern sind also das, was man heute gemeinhin als Pailletten bezeichnet. Glücklicherweise fand ich den echt versilberten Flitter (350 Stück davon!) für den hellblauen Seidenschuh und ich konnte mich erstmals mit der Konstruktion beschäftigen...und tappte abermals in Georg Melchior Kraus (1737-1806) Falle! Wie bereits bei seinem Modekupfer des charmanten Frankfurter Huths, nahm er es abermals nicht so genau mit der Perspektive seiner Zeichnung und führte mich in die Irre.
1794, Mai, Journal des Luxus und der Moden, Jahrgang 9, Erklärung der Kupfertafeln, Detailausschnitt (Quelle: ThULB Jena)

Der Absatz ist das ikonische Herzstück dieser Novität!
Aber auf der Zeichnung schwebt die Front sozusagen in höheren Sphären! Und dadurch erscheint es, als kletterte der Absatz nach vorn ein Stück in die Höhe - das wäre ein äußerst unbequemer Schuh! Autsch!
Für die 1790er Jahre gilt in Sachen Absatz (und Schuh), dass es eine unglaublich spannende Menge an verschiedenen Varianten gab, auch der obige Absatz lässt sich finden, wenngleich nicht mit dem kennzeichnenden Überstand.
um 1795, weiß-blau bedruckte Damenschuhe, Ident.Nr. 2003, KR 1158a,b (Quelle: Staatliche Museen zu Berlin Preussischer Kulturbesitz SMB-digital)
 
Wie erwähnt fehlt an diesem Paar der charakteristische Überstand der Absatzauflagefläche, dass man einen solchen Überstand als notwendig erachtet hat, zeigt anschaulich das folgende Original:
c.1790, White Satin Pumps (Quelle: liveauctioneers)

In der festen Absicht endlich auch das Heruntertreten der Quartiere zu verhindern, habe ich mich mit einem Messer und Schleifpapier an ein Stück Holz begeben.
Auch die Frage um die Proportion und Perpektive wurde gelöst, in dem der Absatz nach vorn hin nicht in die Höhe steigt, sondern insgesamt leicht hinuntergeht.
Anschließend werden die Holzrohlinge mit feinem Leder kaschiert und entsprechend farblich verändert, in diesem Fall ein Weiß mit minimalem Gelb- und Schwarzanteil.

Die erste Hürde war genommen! Die Maße und den Schnitt der Sohle nahm ich entsprechend des Probeschuhs für den Leisten. An dem Leisten habe ich auch den Schnitt für das Schuhblatt erstellt, es wird jeweils aus einem Oberstoff (in diesem Fall Seide) und für das Futter (Leinen) zugeschnitten.
Aber wie verbindet man die beiden Stoffe? Bei meinen vorherigen Modeschuhen der 1790er Jahre verleimte ich, entsprechend der Hinweise aus verschiedenen zeitgenössischen Anleitungen, beide Lagen, aber bei der feinen Seide würde der Leim doch durchschlagen?!
Glücklicherweise ist guter Rat dank all der Digitalisate nicht mehr teuer!

1789, Sechzig eröffnete Werkstätten der gemeinnützigsten Künste und Handwerke für junge Leute, Wien (Quelle: googlebooks)

Transkription:
[...]Wenn Frauenzimmerschuhe von Mohr, Damast, Seidenzwillich oder feinem Zeug zugeschnitten werden, so wird zuerst das Futter von weißem Schafleder oder Canafas über den Leisten nach der Länge und Weite geschnitten, alsdann das Zeug nach dem Futter ausgezeichnet, weil die Leute die Zeuge meistentheils selbst dazu geben, wo dann das Futter auf den Überzug mit weißer Stärke aufgeklebet wird. Weil aber diese bei seidenen Zeugen durchschlägt, so überstreicht der Schuhmacher die Leinwand mit kaltem Wachs, und klebet sie auf den seidenen Überzg auf[...]

Der nächste Schritt bedeutete für mich, das Leinenfutter mit Wachs einzustreichen und zwar so dick, dass eine einigermaßen ebene Fläche entsteht. Je ebenmäßiger die Oberfläche durch den Wachs, umso weinger Stärkekleber ist vonnöten.

Das Leinen kann sich nicht vollsaugen und zu viel Leim aufnehmen.

Bevor der feine hellblaue Seidenstoff und das gewachste Futter zueinander gefunden haben, hieß es aber zunächst, die 4mm-Flitter an ihren vorgesehenen Platz zu bringen.

Zu diesem Zweck markierte ich den Stoff entsprechend mit kleinen Vorstichen und nähte alle 350 Flitter entlang der Linien auf, bevor die beiden Lagen (Oberstoff und Futter) aufgeleimt und vernäht werden.

Ganz ohne Leimdurchschläge und recht glatt. Da das Leinen recht grob ist, haben sich dann doch einige Verdickungen durchgedrückt, aber tatsächlich kein weißer Leim!


Die Schuhblätter bekommen die kennzeichnenden Seidenbänder an der Verbundstelle von Front und Quartier, Rückennaht sowie dem oberen Rand angenäht. Durch den oberen Rand verläuft natürlich noch eine dünne Kordel, mit welcher man die Saumweite am Fuß einstellen kann.
Und dann stand die Fertigung der Rosetten mit den Knöpfen in Wedgwoodscher Kunst bevor.
Sechs Knöpfe der Manufaktur Wedgwood

In der Ausstellung "Wider Napoleon!" im Jahre 2014 konnte ich den herrlichen Satz von sechs Knöpfen der Manufaktur Wedgwood mit ihren antiken Szenen bewundern.
Selbst Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach verschenkte Wedgwood (in diesem Fall an Luise von Knebel), wie ein Ausstellungsstück im Goethemuseum in Düsseldorf zeigt.

Weitere Ausstellungsstücke des Museums habe ich übrigens in diesem Beitrag vorgestellt: hier entlang!
Aber zurück zu der Rosette der Flitterschuhe!
Auch ich entschied mich für ein Paar Knöpfe aus dem Hause Wedgwood.
 Was die Seidenrosetten selbst betrifft, zunächst versuchte ich sie auf folgende Art und Weise herzustellen

 
Jedoch überzeugte mich der Aufbau nicht, denn auf Kraus' Modetafel waren die Rosetten weniger bauschig, der zweite Versuch aus einem langen Streifen Seide war dann schließlich erfolgreicher.

Die kleinen Knöpfe (sie haben leider nicht die Größe der Medaillons auf Kraus' Tafel), bilden zwei antikisierte Köpfe einer Frau und eines Mannes ab. Ob es sich dabei um Longos' Daphnis und Chloe oder um Orpheus und Eurydike handelt, vermag ich leider nicht zu bestimmen, aber ein Liebespaar passt sehr schön zu den beiden Schuhen.

Kraus' Irreführungen in der Zeichnung zum Trotz, finden die einzelnen Teil des Schuhs am Leisten schließlich zusammen!
Ein Schuh ist entstanden...227 Jahre nachdem er im Journal des Luxus und der Moden vorgestellt wurde.

Selbstverständlich war und bin ich absolut begeistert von dem Entwurf! Zwar mutet der überstehende Absatz ein wenig gewöhnungbedürftig an, aber es ist eine echte Ikone!

Ein Wedgwood Liebespaar im Zwiegespräch in anmutender Kulisse!
 

Aber gleichgültig, wie ich den Schuh drehe und wende, die Persepktive Kraus' auf der Modetafel bekomme ich nicht hin, es war wohl nur ihm vergönnt, gleichzeitig die Hacke und das Medaillon sehen zu können...
Hier noch ein paar weitere Anblicke und Einblicke:
 

 
 




Aber natürlich benötigt ein solch kostbares Paar neuer Schuhe auch eine entsprechende Schachtel!
Mit Holzpappe, schwarzem Lack, Kleisterpapier, einem Decoupagebild der Flora und einem Streifen herrlichster Tapetenbordüre aus dem Hause Hembus, welche ich der Aufmerksamkeit und Großzügigkeit der lieben Auguste Schumann zu verdanken habe (ihren bezaubernden Instagram Account sollte man unbedingt abonnieren!), verschwand ich in der Werkstatt, um nach vielen Stunden mit einer Schachtel wieder hervorzukommen.




Passt perfekt! Überhaupt entpuppte sich das Frauenzimmer-Flitterschuh-Unternehmen als wahrer Quell des Juchzens und angesichts des Funkelns entdeckte ich beinah bislang unbekannte Begehrlichkeiten am Flitter, Flimmer, Glitzer und Goldnippes wie ein Fanferlüschchen!

Wirklich erstaunlich, was ein Paar Schuhe aus dem Weimarer Journal des Luxus und der Moden so alles bewirken kann!
Ob es Herzogin Anna Amalia ähnlich erging? Immerhin war sie bekannt für ihre Liebe zu Schuhen!
Beim Durchblättern des zweibändigen Katalogs "Wiederholte Spiegelungen - Weimarer Klassik" erschienen bei Hanser über die Stiftung Weimarer Klassik, entdeckte ich im ersten Kapitel des ersten Bandes auf der Seite 58 einen spannenden Beitrag über jenes Paar Seidenschuhe, welches im Wittumspalais an der Esplanade in Weimar im Ankleidezimmer zu finden ist.
In diesem Zusammenhang fiel der Name Carl Wilhelm Heinrich Freiherr zu Lyncker (1767-1843), welcher sich in den späten 1770er bis in die 1780er im Dienst der Herzogin befunden hatte und seine Erlebnisse bei Hofe in seinen Memoiren niederschrieb.
In dem Titel "Ich diente am Weimarer Hof" herausgegeben von Jürgen Lauchner im Böhlau Verlag, findet sich eine Stelle auf Seite 34, die Anna Amalias Liebe zu schönen Schuhen näher beleuchtet.
Carl Wilhelm Heinrich Freiherr zu Lyncker schreibt:
[...]Man hatte ihr [Anna Amalia] einen sehr weißen und dicken Gaul gegeben, auf dem sich ihre Figur besonders klein und zart ausnahm, weil sie auf einem deutschen Sattel ritt. Bei dieser Gelegenheit wurde der kleine Fuß der Herzogin bewundert, von welchem überhaupt viel die Rede war. Mehrere galante Cavaliere trugen kleine goldne Schuhe als Berlocken an den Uhrketten und die Fräuleins rechneten es sich zur Ehre, die von ihr getragenen Schuhe zu erkaufen und anzuziehen *)
(Sie legte täglich ein Paar neue an)
*) Die Damen, welche die Herzogl. Schuhe benutzen konnten, bewiesen hierdurch, daß sie kleine Füße hatten und wickelten dieselben zu diesem Behuf vor Schlafengehen fest zusammen[...]

Mein Paar Flitterschuhe misst immerhin eine Länge von 26 Zentimetern  (allein der Absatz steht etwa 5 Milimeter über) und eine Breite von 7,6 Zentimetern, aber Dank des schönen Schnitts und der Passform, wirkt der Fuß recht fein!


"Was für ein Vergnügen, wenn ein neues Paar Schuhe ins Haus geliefert wird! Dazu noch nach Kraus Zeichnung! Wie herrlich der Flitter im Licht erscheint...ich hoffe, sie passen!"

"Entzückend! Sie passen wie angegossen!"


Mit einem solchen Paar schöner Seidenschuhe ist die Dame im Mai 1794 im Handumdrehen ausgehfein und für jede Geselligkeit gewappnet!

"Aber für das Kopfsteinpflaster sind sie nicht geschaffen!"


"Ich bin dennoch äußerst zufrieden!"
 

Zu dem Paar Flitterschuhe passen der 1792er Pariser Strohhut Sens Devant-Derriere und der wattierte Seiden Caraco vorzüglichst!

Ja, Schuhe haben nicht nur die Herzogin Anna Amalia glücklich gemacht, sondern überall in Weimar (und bis nach Westphalen!) für Vergnügen und manchmal vielleicht auch Übermut gesorgt!
Wie sonst erklärt sich der folgende Beitrag:
1795, November, Weimarische Wöchentliche Anzeigen (Quelle: ThULB Jena)

Transkription:
[...]Was verlohren worden. Es ist ein grünseidener weiß eingefasster Frauenzimmer-Schuh, von der Deinhards-Gasse an, bis ins Comödienhaus verlohren gegangen. Der Finder desselben bekömmt ein angemessenes Trinkgeld, und hat sich bey A.d.W. zu melden[...]

Wer weiß, was da im Theaterviertel zu später Stunde vor sich gegangen ist im November 1795. War es ein feiner Modeschuh, der in einem Korb getragen wurde, um schließlich im Comödienhaus gegen einen einfachen Straßenschuh ausgetauscht zu werden und der Trägerin damit den Glanz verlieh, den sie für den Abend angedacht hatte?
War die Premiere eines Theaterstückes derart mit tosendem Beifall gefeiert worden, dass die Akteure weit nach Mitternacht auf dem Weg heim nicht mehr ganz nüchtern waren?
Die gedruckte Anekdote wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben...
Also Obacht, passt gut auf eure Schuhe auf! Immer!