Montag, 15. Februar 2021

Über Schlaf, Schnee, engländische Schuhe und Goethes Ansichten zum Schuhmacherhandwerk


Warum es hier in den letzten Wochen und Monaten so ruhig geworden ist?
Lang habe ich Feixereien über meine Neigung zum Winterschlaf betrieben...und diesen Dezember habe ich mich tatsächlich dazu entschlossen! 
Dazu musste ich aber nicht in eine klamme, lichtlose und muffige Höhle hinabsteigen - Mitnichten! 
Und wenn ich es recht bedenke, begab eigentlich nicht ich mich in den immer wieder erwähnten Winterschlaf, sondern ich legte meine Social Media Accounts in den Schlaf, denn sonst hätte ich beinah noch das hier verpasst:
Nach Jahren trüber grauer Wintertage, wurden wir im Februar endlich mal wieder mit viel Schnee belohnt...und er blieb liegen!
Der blaue Himmel gab schon eine Ahnung vom Frühling und das strahlende Licht beflügelte und brachte neuen Schwung. Ich stürzte mich in die Arbeit!
Schon seit langer Zeit liebäugelte ich mit einem besonderen Paar Schuhen, doch ein Blick auf meine beiden bestehenden Leisten brachte es an den Tag, zunächst musste ein neuer Leisten her.
Warum der wichtig ist? 
Johann Wolfgang von Goethe gibt uns (verfasst zwischen 1812-1814) in seiner Sammlung "Gedichte. Ausgabe letzter Hand (1827)" seine Ansichten zum Handwerk im Gegensatz zum Dilettantismus preis:
 
Auf den Kauf
 
 Wo ist einer, der sich quälet
Mit der Last, die wir getragen?
Wenn es an Gestalten fehlet,
Ist ein Kreuz geschwind geschlagen.
 
Pfaffenhelden singen sie,
 Frauen wohl empfohlen,
Oberleder bringen sie, 
Aber keine Sohlen!
 
Jung' und Alte, groß und klein,
Gräßliches Gelichter!
Niemand will ein Schuster sein, 
Jedermann ein Dichter.
 
 Alle kommen sie gerennt,
Möchten's gerne treiben;
Doch wer keinen Leisten kennt,
wird ein Pfuscher bleiben!
 
Willst Du das verfluchte Zeug
Auf dem Markte kaufen
Wirst du, eh es möglich deucht,
Wirst Du Barfuß laufen.

In seinem poetischen Vergleich (der möglicherweise eine verspätete Anspielung auf August von Kotzebue im Zusammenhang mit dem Frühromantiker Streit um 1800 sein könnte) zwischen dem Handwerk der Schuster und dem der Dichter, verrät er uns auch einige Wahrheiten und Vorgehensweisen in Handel und Handwerk der Schuhmacher. 
Bereits in einem früheren Beitrag erwähnte ich die Möglichkeit, bei dem Schuster fertig bemalte, bestickte oder gefärbte Schuhblätter abzugeben, welche er auf einem Leisten besohlte und mit einem Absatz versah.
Wir erfahren in Goethes Zeilen aber auch, dass auf dem Markt bereits komplett fertige Schuhe angeboten wurden. Goethe, der sich wider dem Dilettantismus aussprach, hielt sich mit seiner Geringschätzung gegenüber solchen Fabrikaten nicht zurück. 
Aber gab es tatsächlich bereits gefertigte Schuhe und den Schuhversand?

Frankfurter Frag-und Anzeige-Nachrichten, Dienstag 10.April 1804 (Quelle: googlebooks)

Transkription:
[...]Wilhelm Azbach, Schuhfabrikant aus Mainz, bezieht zum erstenmal die hiesige Ostermesse mit einem Assortiment nach dem neuesten Geschmack gearbeiteter Herren- und Frauenschuhe. Hat seine Boutique auf dem Römerberg No.18, wo sonsten der Schuhmacher Vogel aus Erfurt gestanden, und empfiehlt sich unter Versicherung bester Bedienung und billiger Preise bestens.[...]

1801, Carl Steinel, Briefe auf einer Reise durch Thüringen und Hessen(Quelle: googlebooks)

Transkription:
[...]Ein großer Schuhfabrikant Meyer, der sehr beträchtliche Versendungen an Schuhen durch ganz Deutschland macht;[...]

Der kommerzielle Schuhversand ist belegt und möglicherweise mag er bei den modischen Frauenzimmerschuhen auch bisweilen funktioniert haben, denn das sehr weiche feine Leder ist doch recht nachgiebig, aber grundsätzlich bestehen die Handwerker, wie aus Goethes Gedicht hervorgeht, doch auf die Fertigung eines Leisten um eine gute und genaue Passform zu gewährleisten.

Womit wir wieder beim Thema wären: Am Anfang eines guten Schuhs, steht ein guter Leisten!

Ohne Bandsäge heißt es Ärmel hochkrempel, die Handsäge und Feilen hervorholen und dann schleifen, schleifen und schleifen!
 

 

Der neue Leisten ist weniger spitz und dient eher für Modelle der späten 1780er/ sehr frühen 1790er (und dann wieder ab etwa 1800). Die Abmessungen stimmten, aber lieferte er auch einen passablen Schuh?
Bevor ich mich an den geplanten Schuh begeben wollte, entschloss ich mich, den Leisten mit einem einfachen Paar Schuhe zur Probe auf seine Passgenauigkeit zu prüfen.
Ein Modell erregte mein Interesse, das vor allem in England in den 1780er Jahren zeitgleich neben den Schnallenschuhen auftauchte bzw. sich aus diesen entwickelte und sich bis in die 1790er Jahre hielt.
Überhaupt stellen die Schuhmoden der 1790er Jahren einen bunten Reigen an verschiedenen Modellen dar, hier sah man noch hohe Absätze, dort schon eher flache, spitze Formen existierten neben eher rundlichen, Farben und Formen wurden kombiniert - Vielseitigkeit prägte dieses spannende Jahrzehnt, nicht nur in der Schuhmode!

1790-1800 Black pointed ladies' shoes, Great Britain (Quelle: Shoe-Icons)

1780-1790, Shoe NT 1348841.1, Leather Snowshill Wade Costume Collection (Quelle: National Trust)

Beide Paare weisen die langgezogene Schuhzunge auf, wie man sie von Schnallenschuhen kennt.
Während die Schuhe in den 1780er Jahren noch auf höheren Absätzen daherkamen, flachten diese zu Beginn der 1790er Jahre allmählich ab.
Ich entschied mich bei dem Obermaterial für schwarzes Leder, gefüttert mit Leinen.
Einfassband findet sich bei Originalen entweder als Köperband oder Ripsband, ich wählte für mein Paar Köperband:



Nicht selten muß ich beim Nähen zur Zange greifen. 
Mein Leder ist mit Lederfarbe bemalt, da ich ausschließlich mit dem Leder abgelegter Kleidungsstücke arbeite.


Die Kordel verläuft durch den Kanal des Einfassbandes und wird verknotet unter der langen, dreieckigen Zunge verborgen. Es ist unentbehrlich beim Regulieren am Fuß, denn trotz Einfassband sitzt das Material manchmal zu locker. Das Band habe ich - Originalen entsprechend - aus verzwirbeltem Leinenfaden gefertigt, der später noch zusätzlich mit Wachs gefettet wurde.



Dieser erste Arbeitsschritt, die Fertigung des Schuhblatts, fiel nicht immer in die Hände der Schuhmacher, sondern wurde, wie eingangs erwähnt, auch im häuslichen Umfeld hergestellt.
Sohle und Absatz wurden hingegen vom Handwerker gefertigt.
 

Ich hatte ein neues Paar Absätze gefertigt, war mir aber nicht sicher, ob meine englischen Schuhe mit den neuen, etwas höheren Absätze oder doch lieber mit den eher flacheren der 1790ern verfertigt werden sollte.
 


Ja, wer die Wahl hat, hat die Qual! Aber die schwarzen engländischen Schuhe sollten dem westphälischen Pflaster trotzen und daher entschied ich mich für den flacheren Absatz.
 

Gute Wahl, oder?




Wie alle meine Schuhe, handelt es sich auch bei diesem Paar um sogenannte Modeschuhe, deren Herstellung und Unterscheidung ich in einem früheren Beitrag bereits aufgeschlüsselt habe.



Eine genaue Bezeichnung dieses Schuhtypus konnte ich in den deutschen Journalen bislang nicht finden. Leider beschränken sich viele Beschreibungen der Kupfer zumeist nur auf Farbe und Material der dargestellten Schuhe. 
Aus diesem Grund habe ich mir erlaubt, sie in meinem Beitrag als "engländische Schuhe" zu betiteln, da ihr buchstäbliches Auftreten dort am häufigsten war.



Glücklicherweise sehen die Modeschuhe nicht nur geschmackvoll aus, der neue Leisten passt auch ganz ausgezeichnet und begleitet mich hoffentlich in Kürze auf weiteren Schuhabenteuern.
 
Apropos Abenteuer! Wie steht es bei einem solchen Modeschuh wohl um die Tauglichkeit bei nasser und kalter Witterung? 
Der Schnee im Februar lud geradezu dazu ein, dieser Frage auf den Grund zu gehen.
Mein Fazit: wer sich Modeschuhe leisten konnte, hatte sicherlich auch die Muße, bei solch abträglichem Wetter in der warmen Stube zu bleiben...es ist wirklich sehr kalt und der Fuß entwickelt sich binnen kürzester Zeit zum Eisklumpen...


...da bleibt Madame lieber im Warmen, setzt sich an den Kamin, träumt vom Frühling und einem weiteren Paar Schuhe. Die Frühlingsmode wird nach der Leiziger Ostermesse sicher wieder einige gefüllte Schachteln bescheren.

 

 

13 Kommentare:

  1. Oh! Wieder ein wunderbares Paar.
    Was mir bei der Lektüre noch durch den Kopf ging: Wenn eine Dame auf Visite ging, würde sie bei Ankunft auch die Schuhe wechseln? (Wie man beispielsweise auch in Tanzschuhe wechselt, wenn man an einen Ball geht?)

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    1. Vielen Dank!
      Ich finde, das ist eine plausible Vorgehensweise, die guten Modeschühchen bei einer Einladung einzustecken, falls das Wetter für den Weg dahin aufgrund von Regen oder Schnee anderes Schuhwerk vorschreibt. Ich halte beim Lesen die Augen offen und hoffe demnächst einen konkreten Beleg anfügen zu können!

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    2. Leibe Sabine,
      Wir haven't auch Schnee...mmm, im Wahrheit Schneeregen. Mann kann rodeln :)

      What a view, with the woodpile, the snowy track and the trees.

      The new last is really interesting. The high vamp is so attractive and the pair of shoes that resulted worked out well, didn't they? Found the tightening string very interesting...a method had not been aware of.

      Wishing you more snowy but sunny days,

      Natalie

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    3. Thank you, Natalie!
      Unfortunately the snow is in the process of melting away now...I truly enjoyed this winterly intermezzo, the snow with it's blanket of silence and the beautiful light! How many days like that we've had back in my childhood days, I guess I wasn't the only one longing to see such a winter again, because so many people sport a smile on their face during our walks through the woods in the snow!
      Yes, the last works very well, it only needed a tiny bit of sanding on the vamp. I have started with my planned shoes, but the cold drove me away from the workshop, leaving the wooden heels half done...but there's such a lot of reading and other interesting small projects and I just go with the flow...Very best, Sabine
      P.S. I hope the new translation gadget works well, alas I had to switch from bilingual as the long hours in front of the laptop are not very becoming for my back...(plus the algotrithm of such translation programs will only improve their vocabulary if more and more people use it)

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    4. Liebe Sabine,
      Ich erinnere mich die selbe Tage in Altdorf, mit Schnee und farbig: Weis, Silber, Schwarz, Gruen. Hier haben wir mehr Schnee, und ich habe meinen Schreibtisch aufgestellt, um aus den Fenstern zu schauen.

      Going with the flow is just the thing to do these days...Nutmeg kitty meowed loudly a moment ago and flopped on her back, stretching and begging to be petted. She is going with the flow, too!

      Yes, the translation works surprisingly well, and even if it was iffy, the most important thing is that you protect your back! I try to read much of the post in German, but usually get so deeply interested in your descriptions that I have to have it translated. Impatience :} :}

      Hugs from afar, and happy walking im Wald -- the joy of the sounds and scents and views.

      Natalie

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  2. Liebe Sabine,

    ich bestaune und bewundere Deine Ausdauer: Leisten herzustellen stelle ich mir als Geduldsmarathon vor, chapeau! Die Schühchen sind Dir wieder aufs Trefflichste geraten! Toll!

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    1. Vielen lieben Dank für Deine herzlichen Worte. Jetzt, nachdem sich der Leisten als passend erwiesen hat, kann ich es kaum erwarten, das eigentliche Paar Schuhe endlich vollenden zu können.

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  3. Oh Sabine, I am so impressed that you made your own last and comfortable, well-fitting shoes! It is wonderful to see you posting again--I'm glad you had a break and I am also glad that your rest was rejuvenating.

    Best,
    Quinn

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    1. Thank you for your kind words! I guess I am even slower than before in projects, but it's good to be back at old-fashioned blogging!

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  4. Liebe Sabine, nun habe ich wieder den Weg auf Deine Seite gefunden und sehr zu meiner nem Vergnügen gibt es wieder reichlich Lesefutter.Schön zu sehen, wie Deine Schuhstudien weiter fortschreiten und auch praxistaugliche Früchte tragen, dieses Paar sieht besonders bequem aus.Bei der Frage nach Wettertauglichkeit denke ich immer an Stiefelchen, da ist mir aber bisher wirklich nur wenige g untergekommen bzw online tauchen die immer gleichen wenigen Exemplare auf. Es existierten wohl auch Überschuhe oder ähnliches, während die feinere Gesellschaft sicherlich das Problem umgehen könnte, muss doch irgendwer auch das Feuerholz holen und die Hühner füttern 😉 vermutlich sind diese Exemplare aber der Abnutzung zum Opfer gefallen oder ist Dir da Mal etwas untergekommen? Ich erinnereich der Dresdener Köchin, deren Ensemble Du einmal aufs Schönste nachgeschneidert hast, allerdings dürfte das schon ihre bessere Garderobe gewesen sein, oder?Fragen über Fragen...

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    1. Vielen Dank für Deinen Kommentar. Ich freue mich, dass Du - trotz meiner langen Abwesenheit - mal wieder hierher gefunden hast.
      In den Sammlungen überwiegen wohl die feineren Modeschuhe, aber oftmals geben Texte gute Einblicke, was wann und wie und wo getragen wurde. In einem meiner vorherigen Artikel über Frauenzimmerschuhe konnte ich einen Text einfließen lassen, in dem Modeschuhe mit festen mehrfach genähten Schuhen verglichen wurden...leider sind diese Exemplare in Museen wohl eher rar, da sie in den Vitrinen nicht so anziehend wirken wie die bemalten, seidenen oder bestickten...Ich horte aber auch noch ein paar spannende Textstellen, die ich nach und nach in folgende Beiträge einfließen lassen werde - kurz: es bleibt spannend, denn es gibt noch so viel zu erzählen!

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  5. Ich bin sehr beeindruckt. Tolle Arbeit, Bravo für die Umsetzung und Idee.

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